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„Es möge das Volk entscheiden“

In Bulgarien hat Ministerpräsident Bojko Borissow seinen Rücktritt erklärt. „Wir haben Würde und Ehre. Es ist das Volk, das uns an die Macht brachte, und wir geben sie ihm heute zurück“, sagte Borissow am Mittwoch vor dem Parlament in Sofia. Zugleich stellte er klar, nicht für eine Übergangsregierung zur Verfügung zu stehen.

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Zuvor hatten Zehntausende aufgebrachte Bulgaren seit mehr als einer Woche gegen die Sparpolitik der bürgerlichen Regierung protestiert. Die landesweiten Aktionen richteten sich vor allem auch gegen hohe Stromrechnungen und das Monopol ausländischer Stromanbieter, zu denen auch die niederösterreichische EVN zählt.

Ursprünglich sollte das Parlament am Mittwoch über eine Kabinettsumbildung abstimmen, nachdem Borissow den unbeliebten Finanzminister Simeon Djankow entlassen hatte. „Ich werde nicht Teil einer Regierung sein, in der die Polizei Menschen verprügelt“, sagte Borissow im Parlament. „Es möge das Volk entscheiden.“ Auch das gesamte Kabinett tritt den Angaben zufolge zurück.

Kurz vor planmäßiger Wahl

Die Proteste gegen die Sparmaßnahmen und die hohen Strompreise hatten die Regierung erheblich unter Druck gebracht. Bulgarien ist das ärmste Land der Europäischen Union. Im Juli sollte planmäßig eine Parlamentswahl stattfinden. Nun ist von vorgezogenen Wahlen Ende April die Rede. Es zeichnete sich zuletzt ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der alleinregierenden GERB-Partei und den Sozialisten ab.

Demonstration in Sofia

APA/EPA/Vassil Donev

Tausende gingen in Bulgarien auf die Straße

Verletzte bei Protesten

Bei Zusammenstößen zwischen regierungskritischen Demonstranten und der Polizei wurden am Dienstagabend in der Hauptstadt Sofia mindestens zehn Menschen verletzt, teilte unterdessen das behandelnde Pigorow-Krankenhaus mit. Sofias Polizeichef Waleri Jordanow sagte, auch drei Polizisten seien bei den Ausschreitungen verletzt worden. Die Polizei habe 25 Demonstranten festgenommen. Bei Protestkundgebungen in zehn anderen Städten des Landes gab es keine größeren Zwischenfälle.

Den Angaben zufolge griffen einige der insgesamt etwa tausend Demonstranten in Sofia die Polizei mit Steinen und Knallkörpern an, woraufhin die Beamten Schlagstöcke eingesetzt hätten. Einige Randalierer seien weiter durch die Stadt gezogen und hätten Autos, darunter acht Polizeiwagen, demoliert und Scheiben eingeworfen. Bei Protesten am Vorabend waren in Sofia elf Menschen, darunter sechs Polizisten, verletzt worden.

„Musterminister“ ging als Erstes

Am Dienstag hatte der nun zurückgetretene Regierungschef zugesichert, die Energiepreise mit März um acht Prozent zu senken. Zudem wurde ein Verfahren eingeleitet, um dem tschechischen Unternehmen CEZ die Lizenz zur Energieversorgung zu entziehen. CEZ ist im Westen des Landes der einzige Stromversorger. Borissow musste am Montag den Rücktritt seines „Musterministers“ Djankow verkünden, der zuletzt für sein Sparprogramm in Brüssel Lob geerntet, doch im Land mit dramatisch sinkenden Umfragewerten zu kämpfen hatte.

Zurückgetretener bulgarischer Finanzminister Djankow

picturedesk.com/Itar Tass/Fadeichev Sergei

Finanzminister Simeon Djankow musste seinen Sessel räumen

EVN-Zentrale belagert

Die über das Internet organisierten Aktionen hatten vor mehr als einer Woche ursprünglich aus Protest gegen überhöhte Stromrechnungen begonnen. Eine Hauptforderung der Demonstranten ist die Verstaatlichung der erst 2004 privatisierten Energieversorgung - betroffen wären neben den tschechischen Unternehmen CEZ und Energo-Pro auch die niederösterreichische EVN. Rund 2.000 Demonstranten belagerten am Wochenende die EVN-Zentrale in Plowdiw. Sie bewarfen das Gebäude mit Stotinki-Münzen und schrien „Mafia“ und „Räuber“. Mindestens drei EVN-Dienstautos gingen in Flammen auf. Proteste fanden in 20 Städten statt.

Die Bürger beklagen, dass ihre Stromrechnungen zwischen November und Dezember doppelt oder dreimal so hoch ausgefallen seien wie sonst, obwohl der Dezember nicht besonders kalt gewesen und auch der Energieverbrauch nicht gestiegen sei. In einzelnen Fällen waren die Rechnungen höher als die monatlichen Pensionszahlungen.

Präsident fordert Überprüfung aller Unternehmen

Der bisher amtierende Wirtschafts- und Energieminister Deljan Dobrew hatte am Montag angekündigt, die Geschäfte der ausländischen Konzerne überprüfen zu wollen. Zuvor hatte er den Unternehmen mit Lizenzentzug gedroht, sollten Unregelmäßigkeiten festgestellt werden. EVN-Sprecher Stefan Zach wies jedoch die Schuld zurück. Dass der Tarif im Sommer um 13 Prozent erhöht wurde, sei nicht die Schuld der EVN, sagte Zach. Der Preis werde von der Behörde diktiert, die Erhöhung sei ausschließlich auf Steuern zurückzuführen.

Präsident Rossen Plewneliew sprach sich gegen die Verstaatlichung der Energieversorger aus, forderte jedoch eine gründliche Prüfung nicht nur der Stromunternehmen, sondern auch der staatlichen Energiefirmen und -behörden, darunter auch der bulgarischen Energieholding BEH, der nationalen Stromgesellschaft NEK und der Regulierungsbehörde DKEVR. Auch diese seien für die Bildung des Strompreises verantwortlich, zitierten Medien Plewneliew am Montag.

Von Regierung enttäuscht

Doch niedrigere Strompreise waren nicht die einzige Forderung der Demonstranten. Seit dem Wochenende wurde immer öfter der Ruf nach dem Rücktritt der gesamten Regierung laut. Die 2006 von Borissow gegründete Bewegung „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“ (GERB) hatte zum Amtsantritt 2009 versprochen, die Einkommen der Bulgaren auf mitteleuropäisches Niveau anzuheben und die Korruption wirksamer zu bekämpfen.

Doch die Wirtschaft des Landes wächst nur langsam und kämpft weiterhin mit den Folgen der Rezession von 2009, als die Konjunktur um mehr als fünf Prozent einbrach. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt nach wie vor bei weniger als der Hälfte des EU-Durchschnitts. Die Strompreise, die nach der Öffnung des staatlichen Sektors ständig steigen, waren der Tropfen, der das Fass nun zum Überlaufen brachte.

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