Dezember-Rechnungen verdoppelt
Nach Massenprotesten gegen die Sparpolitik der bulgarischen Regierung hat am Montag Finanzminister Simeon Djankow seinen Hut nehmen müssen. Seit einer Woche protestieren Zehntausende Bulgaren gegen die steigenden Stromkosten und die Monopolstellung ausländischer Anbieter. Beobachter gehen jedoch davon aus, dass Djankow nur ein Bauernopfer vor der Wahl im Juli ist.
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Die wütende Bevölkerung kann sich über einen kleinen Etappensieg freuen. Regierungschef Bojko Borissow musste am Montag den Rücktritt seines „Musterministers“ Djankow verkünden, der zuletzt für sein Sparprogramm in Brüssel Lob erntete, doch im Land mit dramatisch sinkenden Umfragewerten zu kämpfen hatte. Mit der „Opferung“ des verhassten Finanzministers soll nun vor der Parlamentswahl im Juli wieder Boden gutgemacht werden. Doch die Demonstranten kündigten bereits neue Protestaktionen und Blockaden an.
Ausschreitungen in Sofia
Montagabend kam es bei Protesten gegen Premier Borissow zu Zusammenstößen mit der Polizei. Zuvor warfen Demonstranten Steine auf das Parlament und gegen die Sicherheitskräfte. In Anspielung auf den bereits erklärten Rücktritt von Djankow riefen die Demonstranten: „Djankow ging, jetzt ist Bojko (Borissow, Anm.) dran.“ Zuvor hatten alle Oppositionsparteien den Rücktritt der Regierung und Neuwahlen verlangt. Proteste gegen die Sparpolitik der bürgerlichen Regierung gab es auch in der zweitgrößten Stadt Plowdiw, in Warna und Burgas am Schwarzen Meer sowie in anderen größeren Städten.
EVN-Zentrale belagert
Die über das Internet organisierten Aktionen hatten vor mehr als einer Woche ursprünglich aus Protest gegen überhöhte Stromrechnungen begonnen. Eine Hauptforderung der Demonstranten ist die Verstaatlichung der erst 2004 privatisierten Energieversorgung - betroffen wären neben der tschechischen Unternehmen CEZ und Energo-Pro auch die niederösterreichische EVN. Rund 2.000 Demonstranten belagerten am Wochenende die EVN-Zentrale in Plowdiw. Sie bewarfen das Gebäude mit Stotinki-Münzen und schrien „Mafia“ und „Räuber“. Mindestens drei EVN-Dienstautos gingen in Flammen auf. Proteste fanden in 20 Städten statt.

APA/EPA/Vassil Donev
Tausende gingen in Bulgarien auf die Straße
Die Bürger beklagen, dass ihre Stromrechnungen zwischen November und Dezember doppelt oder dreimal so hoch ausgefallen seien wie sonst, obwohl der Dezember nicht besonders kalt gewesen und auch der Energieverbrauch nicht gestiegen sei. In einzelnen Fällen waren die Rechnungen höher als die monatlichen Pensionszahlungen.
Präsident fordert Überprüfung aller Unternehmen
Wirtschafts- und Energieminister Deljan Dobrew kündigte am Montag an, die Geschäfte der ausländischen Konzerne überprüfen zu wollen. Zuvor hatte er den Unternehmen mit Lizenzentzug gedroht, sollten Unregelmäßigkeiten festgestellt werden. EVN-Sprecher Stefan Zach wies jedoch die Schuld zurück. Dass der Tarif im Sommer um 13 Prozent erhöht wurde, sei nicht die Schuld der EVN, sagte Zach. Der Preis werde von der Behörde diktiert, die Erhöhung sei ausschließlich auf Steuern zurückzuführen - mehr dazu in oesterreich.ORF.at.
Präsident Rossen Plewneliew sprach sich gegen die Verstaatlichung der Energieversorger aus, forderte jedoch eine gründliche Prüfung nicht nur der Stromunternehmen, sondern auch der staatlichen Energiefirmen und -behörden, darunter auch der bulgarischen Energieholding BEH, der nationalen Stromgesellschaft NEK und der Regulierungsbehörde DKEVR. Auch diese seien für die Bildung des Strompreises verantwortlich, zitierten Medien Plewneliew am Montag.
Von Regierung enttäuscht
Doch niedrigere Strompreise sind nicht die einzige Forderung der Demonstranten. Seit dem vergangenen Wochenende wird immer öfter der Ruf nach dem Rücktritt der gesamten Regierung laut. Die 2006 von Borissow gegründete Bewegung „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“ (GERB) hatte zum Amtsantritt 2009 versprochen, die Einkommen der Bulgaren auf mitteleuropäisches Niveau anzuheben und die Korruption wirksamer zu bekämpfen. Die regulären Parlamentswahlen sollen im Juli stattfinden. Es zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der alleinregierenden GERB-Partei und den Sozialisten ab.
Doch die Wirtschaft des Balkanlands wächst nur langsam und kämpft weiterhin mit den Folgen der Rezession von 2009, als die Konjunktur um mehr als fünf Prozent eingebrochen war. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt nach wie vor bei weniger als der Hälfte des EU-Durchschnitts. Die Stromrechnungen, die nach nach der Öffnung des staatlichen Sektors ständig steigen, sind der Tropfen, der das Fass nun zum Überlaufen brachte.
Kabinett wird umgebildet
Die oppositionelle DSB um Ex-Premier Iwan Kostow bezeichnete den Rücktritt Djankows als ein Bauernopfer seitens eines Regierungschefs, der völlig ratlos sei. Die DSB äußerte die Forderung nach einer Expertenregierung bis zu den regulären Parlamentswahlen im Juli.

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Finanzminister Simeon Djankow musste seinen Stuhl räumen
Doch vorerst versucht Borissow mit Umbesetzungen seines Kabinetts für bessere Stimmung zu sorgen. Djankows Position als stellvertretender Regierungschef wird von der Ministerin für regionale Entwicklung, Liljana Pawlowa, übernommen. Sie ist laut einer Umfrage des Instituts Gallup das beliebteste Kabinettsmitglied mit einer Zustimmungsrate von 30 Prozent. Als neuen Finanzminister schlug Borissow Tomislaw Dontschew vor, der momentan für die Vergabe der EU-Fonds zuständig ist und dieses Amt auch weiter leiten soll.
Millionen für Getreideproduzenten?
Der Finanzexperte und Ex-Wirtschaftsminister Emil Harssew vermutet hinter dem Rücktritt Djankows einen weiteren Grund: Die Regierung beabsichtige, die Staatsverschuldung zu erhöhen, um Landwirtschaftssubventionen von bis zu 500 Mio. Euro für Getreideproduzenten auszahlen zu können, die bereits drohten, mit Traktoren in die Hauptstadt einzumarschieren. Laut Harssew sei eine solche Subventionszahlung wirtschaftlich sinnlos und wäre von dem für seine Finanzdisziplin bekannten Djankow auch kaum unterstützt worden. Doch dafür dürfte nun der Weg frei sein.
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