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„Vollkommen unberechenbar“

Zwar gibt es in Estland schon seit 300 Jahren eine russische Minderheit, doch erst die gezielte Einwanderungspolitik Stalins nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte ein Wachsen der Quote auf über 30 Prozent. Doch dann brach die UdSSR auseinander, und 1991 wurde Estland unabhängig. Die Russen blieben - und mit ihnen auch die Ressentiments der Esten gegen sie.

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Bis heute blieben etwa 340.000 Menschen russischer Abstammung von insgesamt 1,34 Millionen Einwohnern in Estland - ein starkes Viertel der Gesamtbevölkerung und dennoch offiziell eine Minderheit. Politisch ging Estland nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf Distanz zu Russland - nie kam etwas anderes als eine vollkommene Orientierung in Richtung Europa für die souveränen Esten in Frage.

1994 verließen die letzten Soldaten estnisches Gebiet, zehn Jahre später trat Estland der NATO und der EU bei. Schnell wurden wirtschaftliche Beziehungen mit westlichen Unternehmen hergestellt, über 3.000 Firmen allein aus Schweden ließen sich bis heute in Estland nieder. Der Kontakt mit Russland nahm immer mehr ab - die Beziehungen erkalteten immer mehr.

Russophobie und offene Provokationen

Dafür nahmen gegenseitige Provokationen zu: „Unabsichtliche“ Luftraumverletzungen, „technische Probleme“ an lebenswichtigen Energieleitungen, Zollschikanen und ruppige Rhetorik wurden von den besonders empfindlichen Esten mit Verärgerung registriert. Die Abneigung gegenüber Russen nahm folglich nicht ab, was sich auch auf die Gesellschaft innerhalb Estlands auswirkte, offene Russophobie etablierte sich über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg.

Doch auch politisch fuhr Estland einen Kurs der Abgrenzung zu Russland: Die höchsten politischen Ämter nahmen stark westlich geprägte Politiker ein, die einen Großteil ihres Lebens im Ausland verbracht hatten. So etwa der seit 2006 als Staatspräsident fungierende Toomas Hendrik Ilves, der in den USA aufwuchs und erst nach seiner Rolle als estnischer Botschafter nach Estland kam. Und seit Ilves im Amt ist, scheut er - in seiner Rolle als höchster Beamter Estlands - nicht vor offenen Provokationen in Richtung Russland zurück.

„Tausendmal interessanter, was in Brüssel passiert“

Einen Einblick verschaffte etwa sein letzter Österreich-Besuch Ende 2010: „Russland ist vollkommen unberechenbar, wenn sie ein Problem haben wollen, dann schaffen sie eines“, erklärte Ilves und setzte fort: „Es gibt Leute in Russland, die tun sich schwer zu verstehen, dass man auf einer postsowjetischen Basis keine funktionierende liberale Demokratie aufbauen kann, und ich glaube, dort liegt das Problem.“ Für ihn sei jedoch „tausendmal interessanter, was in Brüssel passiert, als irgendwo östlich von uns“, so Ilves damals.

Streit über Sowjetdenkmal löste Unruhen aus

Doch es war in den letzten Jahren auch zu gewalttätigen Unruhen gekommen. Die infolge eines Wahlversprechens von Ministerpräsident Andrus Ansip durchgeführte Entfernung eines Sowjetdenkmals (des „Bronze-Soldaten“ in der Tallinner Innenstadt, Anm.) verursachte zwischen 26. bis 28. April 2007 die ersten ethnisch geprägten, gewalttätigen Unruhen in einem baltischen Land seit der versuchten blutigen Niederschlagung der Unabhängigkeitsbewegungen im Baltikum durch die sterbende Sowjetmacht Anfang der 90er Jahre.

Dabei war ein 19-Jähriger ums Leben gekommen, über hundert Menschen wurden verletzt, die Polizei nahm Hunderte großteils russischsprachige Jugendliche fest - die verdächtigten Drahtzieher wurden jedoch aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Das umstrittene Denkmal steht auf einem Soldatenfriedhof am Stadtrand Tallinns. Es gilt für die estnischsprachige Bevölkerung weithin als Symbol der sowjetischen Unterdrückung, während es für die Russischsprachigen bis heute als Monument für die Befreiung Estlands von der nationalsozialistischen Herrschaft angesehen wird.

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