Wie es zu Joel Spazierer kam
„Der Ausgangspunkt war eine Figur. Die Figur hat mir ihre Geschichte erzählt.“ Wenn Michael Köhlmeier über sein neues 650-Seiten-Opus „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ spricht, dann klingt es so gar nicht nach großem Bauplan.
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Obwohl dem Leser ins Auge springt, dass hier ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte aus einer sehr spezifischen Perspektive betrachtet wird und Anspielungen von Grimmelshausens „Simplicius Simplicissimus“ bis Bulgakows „Der Meister und Margarita“ so augenfällig sind, dass auch der Autor sie nicht in Abrede stellen kann: Am Anfang war der Mensch. Joel Spazierer, geboren 1949 unter ganz anderem Namen. „Er wächst absolut bindungslos auf. Das ist für ihn prägend. Er ist ein absolut erwartungsloser Mensch. Er kann nur gewinnen, sein ganzes Leben ist ein Gewinn. Und er wird nie vom schlechten Gewissen geplagt.“
Realer Ausgangspunkt
Joel Spazierer ist einer, der sich außerhalb des Gesetzes stellt. „Der Ausgangspunkt war ganz real“, erzählt der Vorarlberger Autor im Gespräch mit der APA. „In der Schule ist ein ganz stiller, angenehmer, schöner Bub mit mir in die Klasse gegangen. Es hat ihn jeder wirklich gemocht. In der Schweiz hat er einen reichen Freund gehabt, mit dem er Modellflugzeuge gebastelt hat. Er hatte sogar den Schlüssel zu ihrer Garage. Eines Tages kam er auf den völlig unsinnigen Gedanken, dort einen Modellfliegermotor zu stehlen. Da taucht die Mutter des Freundes auf. Er reagiert panisch, eins ergibt das andere, und er erwürgt sie. Wenn unter allen Schülern, allen Bekannten einer gewesen wäre, dem ich so etwas nie zugetraut hätte, wäre es er gewesen. Diese Figur hat sich dann ausgeweitet.“
Lügen nicht verdammen?
Spazierer selbst wirkt wie eine Leerstelle, wie ein Spiegel für die Fantasie seiner Mitmenschen. Er ist jemand, der die Lüge meisterhaft beherrscht. Wie hält es Köhlmeier selbst mit der Wahrheit? „Die absolute Verdammnis der Lüge ist ein Machtinstrument. Ich möchte mir offen lassen, ob ich in gewissen Situationen die Wahrheit sage oder die Unwahrheit.“ Nachsatz: „Schriftsteller ist übrigens ein idealer Beruf dafür.“
Fast sechs Jahre hat Michael Köhlmeier an seinem neuen Roman gearbeitet. Mit seinem bisherigen Opus Magnum „Abendland“ (2007) verbindet das Buch nicht nur die Figur des Autors Sebastian Lukasser, der als Alter Ego Köhlmeiers hier wie dort in Erscheinung tritt. „Die beiden Bücher gehören zusammen“, bestätigt Köhlmeier, „gemeinsam mit ‚Madalyn‘ (2010) bilden sie eine lockere Trilogie. Es geht um die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, um das Zeitalter des Nachschocks.“
„Betroffenheitsliteratur interessiert mich nicht“
Dem 63-jährigen Autor war es wichtig, die Geschehnisse seines Romans, in dem reuelos gemordet wird, kapitelweise dort anzusiedeln, wo tiefstes Unrecht von Staats wegen geschah. Er lässt die Familie seines Helden die Schrecknisse des Stalinismus erfahren und den frechen Betrüger später Karriere im spießbürgerlichen Ableger der Sowjetunion, Erich Honeckers DDR, machen. „Ich wollte aber keinen historischen Roman schreiben. Betroffenheitsliteratur interessiert mich nicht. Ich misstraue Literatur, die eine Funktion hat. Für mich ist Literatur in erster Linie das Spiel meiner Einbildungskraft. Ich weiß: Es hat etwas Unseriöses. Wirklich gute Literatur ist unseriös.“
In der DDR lässt Köhlmeier seinen Protagonisten in philosophischen Seminaren über die Nicht-Existenz Gottes diskutieren, obwohl ihm doch Jahre zuvor Gott leibhaftig erschienen ist. Hat der Autor im neuen Buch auch seine eigene Position zwischen Gott und der Welt, den Ideologien und Religionen zu bestimmen versucht? „Ich neige beim Schreiben nicht zur Selbstreflexion und denke dabei über mich nicht nach“, stellt er derlei in Abrede.
„Bin kein philosophischer Mensch“
„Ich bin kein philosophischer Mensch. Ich glaube auch nicht, dass es ein philosophisches Buch ist. Ich möchte im Grunde nur erzählen, was einem Menschen passiert.“ Die Bemerkung, dass sich „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ in aller Ausführlichkeit mit der Frage „Was ist der Mensch?“ zu befassen scheinen, entlockt Köhlmeier aber doch ein spitzbübisches Lächeln: „Das ist doch keine schlechte Frage für einen Roman. Das ist schließlich die zentrale Frage aller Kunst.“
Schreiben als „Existenzform“
Rund 1.000 Druckseiten habe die Erstfassung des Buches umfasst. Vieles hat Köhlmeier schließlich radikal gekürzt oder ganz gestrichen - trotz Einwänden seines Lektors, des legendären Hanser-Verlegers Michael Krüger. „Er wollte das letzte Kapitel gerne behalten und hat sich dann aber überzeugen lassen“, schmunzelt Köhlmeier, der auf seinen Verlag und die dort verlegten Kollegen stolz ist: „Hanser ist derzeit sicher der interessanteste Literaturverlag. Als Hanser-Autor muss man sich ja genieren, wenn man keinen Nobelpreis hat.“
Vor kurzem erschien das neue Buch, das es auf Platz eins der ORF-Bestenliste geschafft hat. Längst schreibt Köhlmeier bereits wieder. „Die Regel ist, dass ich permanent an einem Gedankenspiel arbeite. Ich darf keine Pause lassen. Schreiben ist für mich eine Existenzform, nicht die Produktion von Büchern.“
Wolfgang Huber-Lang, APA
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