Extremisten infiltrieren instabile Staaten
Das Terrornetzwerk Al-Kaida hat in den letzten Jahren seinen Einflussradius von seiner „Heimat“ im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet sukzessive auf Afrika ausgedehnt. Zwischen Nigeria und Mali im Westen und Somalia im Osten des Kontinents spannt sich ein Netz, in dem unterschiedliche Ableger der Terrororganisation inzwischen offenbar nicht mehr so isoliert agieren wie lange angenommen.
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Konflikte wie jener in Mali, die wegen ihrer Regionalität vom Westen lange Zeit eher mit Desinteresse verfolgt wurden, erhalten damit eine neue geostrategische Bedeutung. In Mali hatte eine Allianz aus unterschiedlichen islamistischen Milizen das Machtvakuum, das der Konflikt zwischen Tuareg und Zentralregierung im Norden des Landes geschaffen hatte, genutzt, um die Region unter ihre Kontrolle zu bringen.
Plötzlich „große Bedrohung“
Spätestens mit dem Geiseldrama auf dem algerischen Erdgasförderfeld In Amenas wurde klar, dass das Problem kein lokal begrenztes mehr ist. Die britische BBC machte kürzlich darauf aufmerksam, dass das Terrorkommando unter dem Algerier Mokhtar Belmokhtar aus dem Einflussbereich der islamistischen Bewegung für Einheit und Dschihad (MUJAO) in Mali heraus operiert hatte. Belmokhtar, der seine „Karriere“ als Kämpfer gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan begonnen hatte, war früher Kommandant von Al-Kaida im Islamischen Maghreb (AQIM).
Hinweise wie diese auf eine mögliche breiter werdende islamistische Front in Afrika lassen nun endgültig die Alarmglocken schrillen. Frankreich entschloss sich Mitte Jänner zu einer Militärintervention in Mali, Großbritanniens Premierminister David Cameron warnte gegenüber der BBC vor einer „großen und existenziellen Bedrohung“ durch Extremisten in Nordafrika, deren Bekämpfung „nicht Monate, sondern Jahre, sogar Jahrzehnte“ in Anspruch nehmen könnte. Genauso wie sich die internationale Gemeinschaft mit der Bedrohung durch Al-Kaida in Afghanistan und Pakistan auseinandersetzen musste, müsse sie das nun in Afrika tun.
Quer über den Kontinent
Gruppen, die sich als Al-Kaida-„Ableger“ deklarieren, sind quer über den Kontinent zahlreich: In Nigeria verübt die islamistische Boko Haram regelmäßig blutige Anschläge, die sich vor allem gegen die nicht muslimische Minderheit im Norden des Landes richten. Von Marokko bis Tunesien ist AQIM aktiv. In Somalia sorgen die Al-Schabab-Milizen seit 2006 für Chaos, sie werden außerdem für Anschläge in anderen ostafrikanischen Ländern wie Kenia verantwortlich gemacht.

Reuters/Adama Diarra
Kämpfer der Extremistenorganisation Ansar Dine im Nordosten Malis
Al-Kaida allgemein wurde oft mit einem terroristischen „Franchise-Modell“ vergleichen, in dem zahlreiche Gruppen mehr oder minder unabhängig voneinander agieren. Mittlerweile stelle sich aber die Frage, ob die Terrororganisation nicht zu einem globalen Netz untereinander verbundener Gruppen wurde, das das gemeinsame Ziel eines Feldzugs gegen den Westen verfolgt, hieß es kürzlich in einer Analyse des US-Magazins „Foreign Policy“ unter dem Titel „Al Qaeda Is Alive in Africa“.
Tatsächliche Kontakte unklar
Allerdings sind die tatsächlichen Verbindungen zwischen den einzelnen Gruppen bzw. zum Kern des Terrornetzwerks um die derzeitige Nummer eins, dem Ägypter Aiman al-Sawahiri, oft unklar. Den somalischen Schabab werden Verbindungen zu Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) nachgesagt. Die Boko Haram behauptet mitunter, Verbindungen zu den Taliban und nach Afghanistan zu unterhalten, ebenso zu AQIM und AQAP.
Die malische Extremistengruppe Ansar Dine um den früheren Tuareg-Führer Iyad Ag Galy bestreitet wiederum Verbindungen zu Belmokhtars Terrorkommando al-Mulathamin („Die mit Blut unterzeichnen“), das für das Geiseldrama in Algerien verantwortlich war. Zuletzt war sogar von einer Spaltung der Organisation die Rede. Die von Ansar Dine abgespaltene neue neue Gruppe namens Islamische Bewegung von Azawad (MIA) kündigte zuletzt an, eine friedliche Lösung in dem Konflikt anzustreben. Sie wolle sich „vollkommen von jeglicher terroristischen Gruppierung distanzieren“, hieß es in einer Erklärung.
Gratwanderung für Sicherheitspolitik
Die Frage, ob und wie die unterschiedlichen Gruppen tatsächlich beginnen, eine geschlossene Front zu bilden, sei ganz entscheidend für das Vorgehen gegen sie, so das US-Magazin weiter. Lokale Gruppen gewähren zu lassen, „bis sie US-Ziele angreifen“, wäre eine zu defensive Strategie und würde auch das Risiko von Überraschungsangriffen erhöhen. Starker militärischer Druck könnte wiederum zur Folge haben, dass sich die unterschiedlichen Gruppen tatsächlich in einer Art Verteidigungshaltung dem Kern von Al-Kaida anschließen - so sie das nicht schon getan haben.
Bisher eher lokal aktiv
Der Angriff auf die Erdgasförderanlage in der algerischen Sahara bedeute jedenfalls einen Schwenk in der Strategie. Egal „wie brutal auch immer“ diese Gruppen zuvor regional aktiv waren, könnten sie nun beginnen, vermehrt westliche Ziel (auf afrikanischem Boden) in ihr Visier zu nehmen. Auf der von den Islamisten gestürmten Erdgasförderanlage waren fast 140 Ausländer beschäftigt, mindestens 37 kamen ums Leben.
In Mali, wo ein „Mischmasch aus lokalen Gruppen mit wechselnden Allianzen und unklaren Verbindungen zu Sawahiri und dem Kern“ am Werk sei, sei die Lage besonders unklar. Auch wenn sie vorerst „nur“ Mali und seine Nachbarländer destabilisierten, könnten sie auf längere Sicht für größere Regionen gefährlich werden, so „Foreign Policy“. Auch die BBC warnte zuletzt vor einem „gefährlichen Bild“, das derzeit im Entstehen sei. Das Risiko für Anschläge auf westliche Einrichtungen und allgemein Ausländer in Afrika werde steigen, entweder weil Extremistengruppen internationale Aufmerksamkeit suchten oder weil sie Rache für die französische Militärintervention in Mali üben wollten.
Warnsignale vom Sahel bis Somalia
Auch wenn sich die internationale Gemeinschaft überrascht davon zeigt, Warnsignale für das Erstarken des islamischen Extremismus gab es in Afrika schon seit Jahren. Dort hätten unterschiedliche Länder - wie eben Mali und Somalia - geradezu ideale Voraussetzungen geboten, hieß es schon im letzten Sommer in einer Analyse der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“): Staaten, die nur „rudimentär organisiert“ seien und deren Strukturen sich unterwandern ließen, ein großes Rekrutierungspotenzial an jungen Kämpfern und „poröse Grenzen“, die leicht zu überwinden sind, und dazu ein großer „Waffenbasar, auf dem sich alles finden lässt“, was man für sein „blutiges Geschäft benötigt. Dieser Ort heißt Afrika.“
Den „Waffenbasar“ und auch marodierende Söldner hat der Libyen-Konflikt hinterlassen. Instabile politische Strukturen hat etwa in Mali der Unabhängigkeitskampf der Tuareg gegen die Zentralregierung geschaffen, in Somalia der Sturz von Diktator Siad Barre und anschließend ein jahrelanger Bürgerkrieg. Rekrutierungspotenzial gab es auch in Algerien nach dem Verbot der Islamischen Heilsfront (FIS) im Jahr 1992 genug. Ihre radikalsten Flügel gingen in der Bewaffneten Islamischen Gruppe (GIA), später in der Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC) und schließlich in AQIM auf. In Nigeria zeigten sich deutliche Tendenzen in Richtung radikaler Islamismus bereits seit über zehn Jahren.
„Präventive Diplomatie“ vergessen
Die USA und Europa hätten wohl zu lange den Fehler gemacht, das Erstarken des „Newcomers“ Al-Kaida in Afrika als isoliertes Phänomen ohne Vorgeschichte zu sehen, hieß es zuletzt sinngemäß ganz ähnlich in einem Kommentar von „Foreign Policy“ unter dem Titel „Beyond Al Qaeda“ („Jenseits von Al-Kaida“). Auch wenn man mit der Feststellung, radikale Strömungen seien „der Politik und Kultur der Region inhärent“, seine Probleme hat, trifft der Kommentar an einer anderen Stelle den Punkt - vor allem in dem, dass Europa und die USA Warnsignale verschlafen und auf „präventive Diplomatie“ in Afrika vergessen haben.
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