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Ein zäher Wettlauf gegen die Zeit

Es war von Anfang an ein Panoptikum: Drei Greise, mit Stock, Wollmütze und Sonnenbrille, sitzen im Rote-Khmer-Tribunal auf der Anklagebank. Den einstigen Drahtziehern des maoistischen Regimes (1975 bis 1979) werden ungeheuerliche Gräueltaten zur Last gelegt: die Vernichtung des eigenen Volkes durch Zwangsarbeit, Folter und Hinrichtungen - mindestens 1,8 Millionen Tote.

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Vor dem riesigen UN-Tribunal mit Dutzenden Richtern, Anklägern, Verteidigern und Nebenklägern sehen sie aus, als verstünden sie die Welt nicht mehr. Bei der ehemaligen Sozialministerin Ieng Thirith ist das womöglich tatsächlich der Fall. Die 80-Jährige war mitangeklagt, wurde im September vergangenen Jahres aber „unter einigen vorläufigen Auflagen“ aus der Haft entlassen, nachdem das Tribunal auf Antrag der Staatsanwaltschaft ihre Freilassung aus gesundheitlichen Gründen verfügt hatte.

Alle Angeklagten gebrechlich

Ihr Mann, Ex-Außenminister Ieng Sary (86), erlitt ebenfalls letztes Jahr einen Schwächeanfall. Ex-Präsident Khieu Samphan (81) braucht ständig Pausen. Der fitteste war lange Zeit noch der einstige Chefideologe Nuon Chea (85), der die Wollmütze wegen der Klimaanlage trug. Mitte Jänner wurde auch er wegen eines Schwächeanfalls ins Krankenhaus gebracht.

„Die Sorge ist, dass einer oder mehrere sterben, bevor es ein Urteil gibt“, sagt Prozessbeobachterin Clair Duffy von der Organisation „Open Society Justice Initiative“. Schon Rote-Khmer-Chef Pol Pot starb 1998 ohne ordentliches Gerichtsverfahren, ebenso 2006 Militärchef Ta Mok. Nach Jahren des Bürgerkriegs kam die Justiz erst vor sieben Jahren in Gang.

Tribunal im Dilemma

Das von den UNO unterstützte Tribunal steckt in einem Dilemma. Einerseits soll es ein Paradebeispiel für faire Justiz abgeben. Andererseits steht es wegen des Alters der Angeklagten unter Zeitdruck. „Wenn die UNO darauf besteht, das Perfekte zum Feind des Guten zu machen, wird dieser Fall nie zu Ende kommen“, kritisiert der Rechtsexperte Peter Maguire.

„Bei mehreren Angeklagten und einer Beweisführung über Dinge, die mehr als 30 Jahre zurückliegen, ist das Ganze selten komplex“, sagt der Tribunal-Sprecher Lars Olsen. Es gibt mehr als eine halbe Million Seiten Dokumente. Solche Verfahren können zehn Jahre dauern. Deshalb ist der Fall schon in Miniprozesse aufgeteilt, um wenigstens in einigen Anklagepunkten Urteile zu erreichen. Zurzeit geht es nur um Massenvertreibungen.

Weiterer Prozess „so gut wie ausgeschlossen“

„Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass es einen weiteren Prozess gibt“, sagt die Prozessbeobachterin Anne Heindel. „Viele Leute werden bestürzt sein, wenn sie merken, dass der Anklagepunkt ‚Völkermord‘ nie zur Sprache kommt.“ War der ganze Aufwand dann umsonst? Das Tribunal hat schon mehr als 200 Millionen US-Dollar (160 Mio. Euro) verschlungen. Bisher wurde als einziger Kaing Guek Eav alias „Kamerad Duch“ verurteilt, der Chef des Foltergefängnisses S-21. Für Hao Sophea, deren Vater dort umkam, war das wichtig. „Ich wollte nicht, dass sein Tod bedeutungslos bleibt“, sagte sie nach der Verurteilung des Foltermeisters zu lebenslanger Haft.

„Natürlich gibt es am Ende Enttäuschungen, perfekte Justiz gibt es nirgendwo“, sagt der Direktor des Rote-Khmer-Dokumentationszentrums, Youk Chhang. Seine Mission lautet: „Geschichte bewahren, Erinnerungen erhalten, das ist die Grundlage aller Rechtsstaatlichkeit und die Voraussetzung für nationale Aussöhnung.“ Dazu hat auch das Tribunal beigetragen: Mehr als 50.000 Menschen waren schon als Zuschauer im Gericht. In der Öffentlichkeit des Gerichtssaals sprechen Menschen über ihre Erlebnisse - wie Em Oeun, der kürzlich eine Zwangsheirat beschrieb. „Wir haben uns beide nachts in den Schlaf geweint“, sagte er. „Wir wären ermordet worden, wenn wir uns nicht geliebt hätten.“

Aufarbeitung der Geschichte des Landes

Das Dokumentationszentrum hat das erste richtige Schulbuch über die Schreckensperiode herausgebracht - bisher haben Kinder praktisch nichts über das dunkelste Kapitel ihrer Geschichte gelernt. Im ganzen Land bringen Hilfsorganisationen Nachfahren von Opfern und Tätern zu Aussprachen zusammen. „Ich hoffe, dass die Kambodschaner ihre Geschichte nun über die nächsten Generationen hinaus weiter erzählen und dass das in die Erziehung der jungen Leute einfließt“, schrieb der Tribunal-Richter Motoo Noguchi vor kurzem bei seinem Abschied.

Ellie Dyer und Christiane Oelrich, dpa

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