Ulrich Seidl macht mit seiner „Paradies“-Trilogie Furore. Der erste Teil „Paradies: Liebe“ lief im Wettbewerb von Cannes, der dritte Teil „Paradies: Hoffnung“ wird auf der Berlinale vorgestellt werden. In den heimischen Kinos läuft nun „Paradies: Glaube“ an, der in Venedig mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde.
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Viel ist seit 9/11 von religiösem Fanatismus die Rede. Seidl zeigt in seinem Film die katholische Seite krankhaften missionarischen Eifers, der sich allerdings mehr gegen die Eiferer selbst wendet als gegen Ungläubige. Gezeigt wird die am Rand von Wien lebende Röntgenassistentin Anna Maria, beeindruckend von Maria Hofstätter („Hundstage“, „Braunschlag“) gespielt. Sie liebt Jesus.
Im Urlaub geht die knapp 50-Jährige missionieren, in Wohnungen, wo man sie einlässt; etwa zu einer muslimischen Familie, einem Messie und einer verzweifelten, betrunkenen jungen Frau aus der ehemaligen Sowjetunion. In Anna Marias Haus trifft sich eine Betgruppe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, dass Österreich wieder katholisch wird. Anna Maria peitscht sich aus für Jesus und rutscht samt Büßergurt auf den Knien durch ihre Wohnung. Und Anna Maria hat Sex. Mit Jesus.
Im Horrorfilm „Der Exorzist“ hatte sich ein Mädchen ein Kruzifix eingeführt. Es war allerdings vom Teufel besessen, nicht von Jesus. Anna Maria leckt den Gekreuzigten in einer Szene ab und steckt ihn unter die Decke, als sie sich selbst befriedigt. Seidl treibt offenbar Schabernack und will wissen, ob man heute noch irgendjemandem ein „O mein Gott“ hervorlocken kann.
Ein Muslim im katholischen Vorstadttempel
Anna Maria war nicht immer so. Warum sie so wurde, wird nur angedeutet. Ihr muslimischer Mann hatte einen Unfall und ist seither von der Hüfte abwärts gelähmt. Dadurch sei sie dem Glauben nähergekommen. Der Mann ging zurück zu seiner Familie - Anna Maria dachte, für immer. Doch plötzlich tritt ein Muslim mitten in ihre Welt aus Selbstgeißelung und Missionierung ein: Der Mann kehrt heim.
Das kann nicht gutgehen, weil Anna Maria ihre Emotionen für Jesus reserviert hat. Und der Mann will sich nicht missionieren lassen, obwohl er beileibe kein extremistischer Muslim ist und gerne Bier trinkt. Bei der Premiere hörte man im Kino immer wieder Lacher. Wie schon bei „Paradies: Liebe“ ist auch hier der Grat zwischen Brutalität, Tragik und skurriler Komik bewusst schmal gehalten.
Sepp Dreissinger
Seidl - der Ex-Ministrant als Schelm
Seidls katholische Vergangenheit
Der Katholizismus ist für Seidl ein Lebensthema, wie er bereits vor Jahren im Interview mit der Austrian Film Commission erzählte. Er war im katholischen Internat bei den Jesuiten in Kalksburg, später bei den Schulbrüdern in Strebersdorf: „Als Kind war ich natürlich Ministrant, und es hätte leicht sein können, dass ich Priester werde, es hätte auch den Vorstellungen meiner Eltern entsprochen, es hat sich aber dann anders entwickelt.“
In seinem Elternhaus prägten die Kirche und der Katholizismus den Alltag. Bereits in seiner vielbeachteten Dokumentation „Jesus, du weißt“ (2003) beschäftigte er sich mit dem Thema. Er nahm dabei Gläubige beim Beten auf und lieferte so einen intimen Einblick in die Innenwelt von gläubigen Christen. Film sei für ihn eine Möglichkeit, „in meine Kindheit zurückzuschauen, die ich schon lange abgestreift hatte“.
Hofstätters katholische Vergangenheit
In ihrem ausführlichen Interview mit Bernd Matschedolnig von Radio Wien bezeichnet sich seine Hauptdarstellerin Hofstätter ebenfalls als „zutiefst“ katholisch geprägt - wenn auch anders als die meisten Menschen ihrer Generation. Sie wuchs in einer bäuerlichen Familie auf. Der Vater war Antifaschist - und der von den Nazis ermordete Franz Jägerstätter sein Vorbild. Später distanzierte sie sich von der Kirche.
Aber eine streng katholische Erziehung lässt sich nicht auslöschen - und so dachte Hofstätter, dass es ihr ein Leichtes sein würde, Anna Maria zu spielen. Das Gegenteil war der Fall, es war für sie „sehr schwer“ und dauerte „verdammt lange“, die Rolle einzustudieren, gerade weil ihr die Figur zu nahe war. Der Luxus einer Zusammenarbeit mit Seidl sei, dass er einem die Zeit lasse, die man brauche.
Ulrich Seidl Film Produktion GmbH
Anna Maria und ihre göttliche Orgel: Der Inszenierung ihres Hauses als katholischer Vorstadttempel wurde viel Augenmerk gewidmet
Im Kloster trainiert
Mit Unterbrechungen arbeitete Hofstätter sieben Jahre lang an dem Projekt. Immer wieder kam man zusammen und probte, um zu schauen: „Klappt’s jetzt schon?“ Lange Zeit konnte sie den missionarischen Eifer von Anna Maria nicht glaubhaft verkörpern.
Sie wollte keine Blasphemie treiben, auch wenn eine religiöse Organistation in Italien sie später deswegen anzeigte: „Es war ja überhaupt nicht die Intention, Blasphemie zu betreiben. Auch die Figur denkt in keiner Weise blasphemisch, sondern sie liebt Jesus. Sie will ihn nicht entwürdigen. Blasphemie bedeutet für mich schon, dass man ganz bewusst religiöse Symbole entwerten will. Und das war weder unsere Intention noch die der Figur“ - mehr dazu in religion.ORF.at.
Sie ging wallfahren, unterzog sich Exerzitien im Schweigekloster, schloss sich entsprechenden Gruppierungen an, betete mit ihnen, besuchte ihre Veranstaltungen. Schließlich klappte es. Hofstätter sagt, sie lernt durch das Spielen das Verständnis für eine Figur. Das sei der Knackpunkt: verstehen, nicht verurteilen, dann erst könne man spielen. Das ist auch das zentrale Moment in Seidls Filmen und wurde jahrelang übersehen: Seine Monstrositätenschau ist kein Selbstzweck wie in Realityshows und Dokus mit sozialwissenschaftlichem Anspruch.
Man kann ihr nicht böse sein
Seidls Voyeurismus läuft auf ein Verstehen der Figur hinaus, genau wie es Hofstätter sagt, genau wie es vor ihr Margarethe Tiesel gesagt hat, die Hauptdarstellerin von „Paradies: Liebe“. Sie gab darin eine Sextouristin, die im Urlaub mit drei jungen, verarmten Afrikanern ins Bett geht - und dennoch hat sie Verständnis für die Figur, wie auch der Zuschauer im Kino.
Die Anna Maria von „Paradies: Glaube“ ist fanatisch, und ihr Mann ist der Kollateralgeschädigte dieses Fanatismus. Aber kann man ihr böse sein? Der eine besäuft sich, der andere geht in den Swingerclub, der nächste bringt sich mit Triathlon halb um - und Anna Maria peitscht sich für Jesus aus. Im Prinzip ist das nicht ungewöhnlicher. Mit infernalischem Eifer versucht man der eigenen Hölle zu entkommen.
Es gibt eben Menschen, die der Exzess befriedigt, die ihn brauchen, warum auch immer, mehr als andere. Welche Form der Exzess annimmt, kommt wohl hauptsächlich aufs soziale Umfeld an und auf die eigene Lerngeschichte. Da bietet sich in Österreich, wenn auch weit seltener als früher, der Katholizismus an. Und das Filmemachen. Aber ob Seidl und Hofstätter jetzt noch in den Himmel kommen?