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Jahre nach Aus für den „Rassensaal“

Die Anthropologie hat in Wien eine lange Tradition, die Sammlung im Naturhistorischen Museum (NHM) ist riesig. Zu sehen war sie in den letzten 16 Jahren für die Öffentlichkeit allerdings nicht. Mit einer am Mittwoch eröffneten neuen Dauerausstellung kehrt das Thema menschliche Evolution nun in die Schauräume zurück - nicht nur technisch, sondern auch inhaltlich in einem modernen Kontext.

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Für die Ausstellung setzten Kuratorin Maria Teschler-Nicola und ihr Team auf viel Multimedia, Interaktivität, Installationen, interdisziplinäre Querverweise und Wissenschaft zum Angreifen - bis hin zu einem „CSI-Tisch“, an dem sich Besucher selbst als virtuelle Paläoanthropologen versuchen dürfen. Zuvor hatte es über 16 Jahre keine anthropologische Dauerausstellung gegeben, nachdem der umstrittene „Rassensaal“ im Herbst 1996 geschlossen worden war.

Theoriestaub abgewischt

Für die neue Ausstellung wurde nicht nur der Theoriestaub samt seiner höchst problematischen Postulate über Rassen und Kulturen, der der Anthropologie aus früheren Zeiten anhaftet, abgewischt. Ziel der Schau sei es, das Thema menschliche Evolution in einem modernen, interdisziplinären Kontext zu zeigen, hatte Teschler-Nicola bereits bei einem Rundgang durch die Säle - vor knapp drei Wochen noch eine einzige Baustelle - betont.

Mitunter sei schon das eine Herausforderung für sich gewesen. Die Evolution der Hominiden - jener Familie der Primaten, zu denen Affe und Mensch gehören - sei „unglaublich kompliziert“. Für die Ausstellung seien deshalb Spezialisten aus Nachbardisziplinen der Anthropologie hinzugezogen worden.

Ein neuer Fund - und alles ist anders

Dazu käme das Problem einer gewissen „Haltbarkeit“. Gut möglich, dass irgendwo Überreste eines frühen Zeitgenossen auftauchen, die aktuelle Theorien und damit das Ausstellungskonzept wieder auf den Kopf stellen. „Was wir nicht wollten, war ein Lehrbuch der Paläoanthropologie schreiben, weil das schnell veraltet ist“, so Teschler-Nicola. „Da bleibt nie etwas für fünf Jahre konstant.“ Entsprechend „vorsichtig aufgebaut“ ist aus diesem Grund auch ein „Stammbusch“, der zentral in einem der beiden Säle platziert ist.

Nachbildungen fossiler Überreste hinter Glas

ORF.at/Peter Pfeiffer

„Stammbusch“ statt Stammbaum: Nicht alles ist klar und linear in der Hominidenevolution

Hinter Glas finden sich darin Nachbildungen fossiler Überreste. Die Anordnung veranschaulicht unterschiedliche Zeitebenen, die „klassischen“ Abstammungslinien fehlen allerdings, da Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Gattungen nicht immer klar seien. „Ein Stammbaum kann heute so und morgen so aussehen“, so Teschler-Nicola. Vom Postulat der Unilinearität der Evolution hat man sich verabschiedet.

Modular und multimedial

Grundsätzlich sei in der Schau versucht worden, Informationen modular bzw. in unterschiedlichen Ebenen aufzubereiten. Einerseits solle das dem Besucher die Möglichkeit bieten, unterschiedlich tief in die Materie einzudringen, andererseits sollten die Inhalte derart auch möglichst adaptierbar bleiben. Es sei versucht worden, einen Spagat zu schaffen zwischen dem, „was als halbwegs gesichert gilt“ und der Frage „Wie können wir reagieren?“, so die Leiterin der Anthropologischen Abteilung.

Räumlich teilt sich die Ausstellung in die beiden Säle 14 und 15 und die Hauptthemen aufrechter Gang und Entwicklung des menschlichen Gehirns. Sie ist grob chronologisch aufgebaut, beginnend mit den Australopithecinen, fossilen Primaten, die in der Zeit zwischen über vier und zwei Millionen Jahren in Afrika lebten, über den vor rund 30.000 Jahren ausgestorbenen Neandertaler bis ins Neolithikum, die Jungsteinzeit.

Blick in einen Schausaal

ORF.at/Peter Pfeiffer

Die 1978 entdeckten „Fußspuren von Laetoli“ haben bereits aufrecht gehende Vorfahren vor über 3,5 Mio. Jahren in Tansania hinterlassen (Nachbildung). An der „Morphing-Station“ (rechts) können sich Besucher optisch in ihre mehr oder minder direkten Ahnen verwandeln.

Originalstücke sind Mangelware

Neben der Komplexität des Themas Hominidenevolution liege eine weitere Herausforderung für Ausstellungsgestalter in der begrenzten Verfügbarkeit von Fundstücken, so die Leiterin der Anthropologischen Abteilung. Nicht nur Originale, sogar detailgetreue Nachbildungen seien nur sehr begrenzt verfügbar.

In der Ausstellung sind unter anderem Replika des Australopithecus sediba - einer vor etwa zwei Mio. Jahren im südlichen Afrika beheimateten Art des „Sahel-Menschen“ Sahelanthropus tschadensis aus dem afrikanischen Tschad - und schließlich des „Hobbits“ Homo floresiensis zu sehen. Dessen nur knapp ein Meter großes Skelett wurde 2003 auf der indonesischen Insel Flores entdeckt. Teils sind die frühen Verwandten auch als ganze Rekonstruktionen zu sehen.

Mensch = Biologie + Sozialverhalten + Kultur

Wo es möglich ist, wurde auf Originalstücke zurückgegriffen. In einer eigenen kleinen Österreich-„Abteilung“ sind Funde aus Niederösterreich wie die rund 28.000 Jahre alten Zwillinge vom Wachtberg und Funde aus Willendorf und Krems zu sehen. In den ersten beiden Wochen zeigt die Schau auch Neandertaler-Fossilien im Original, Leihgaben aus Israel und Kroatien.

Es sei generell versucht worden, den jeweiligen Fundstücken und Epochen „ein spannendes Thema zuzuordnen“ - Jagd, Feuer, Werkzeuggebrauch, Sozialverhalten - und „Biologie immer mit einem kulturellen Aspekt“ zu zeigen. Außerdem sollten Hypothesen und Theorien zu den bedeutendsten Fragen, etwa nach dem Grund für den aufrechten Gang, vermittelt werden.

„CSI-Tisch“ und Kinder als Neandertaler

Stichwort aktuelle Theorien: Den aktuell „heißesten Fragen“ ist in der Ausstellung eine Installation unter dem Schlagwort „What’s hot in Anthropology“ gewidmet. Die Inhalte werden regelmäßig ausgetauscht. „Hands on“-Stationen bieten - nicht nur sehbehinderten Besuchern - Nachbildungen von Fossilien und Artefakten zum Angreifen.

CSI-Tisch

ORF.at/Peter Pfeiffer

Alter, Geschlecht, Todesursache? Paläoanthropologische „Crime Scene Investigation“ (CSI) an einem virtuellen Skelett für Besucher

Und da es in Museen ohne einen gewissen Erlebnis- bzw. Unterhaltungsfaktor nicht mehr geht: An einem „CSI“-Tisch besteht die Möglichkeit, ein Skelett virtuell zu untersuchen. Kinder können sich an einer „Morphing“-Station in Australopithecinen und kleine Neandertaler verwandeln - inklusive der Möglichkeit, Bilder auszudrucken. Ein Bibliotheksbereich bietet die Möglichkeit, per Touchpad tiefer in die Materie bzw. auch in die Wissenschaftsgeschichte des Fachs einzutauchen.

Riesige Sammlung

Die Sammlung des NHM wurzelt wissenschaftsgeschichtlich in der Anthropologie des 19. Jahrhunderts, als die Disziplin noch physische Anthropologie, Kultur- bzw. Sozialanthropologie und Urgeschichte vereinte. Die Trennung der Fachrichtungen fand erst später statt.

Folglich wurde auch die erste Sammlung in Wien 1876 als anthropologisch-ethnographische Abteilung am k. u. k. Naturhistorischen Hofmuseum gegründet. 1927 wurde die Sammlung getrennt, die ethnographische dabei in die Hofburg ausgelagert. Die anthropologische Sammlung des NHM beläuft sich bis heute laut eigenen Angaben auf etwa 60.000 Objekte.

Georg Krammer, ORF.at

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