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Kunst als neue Religion

2013 ist das Jahr von Richard Wagner und Giuseppe Verdi. Beide Komponisten wurden vor 200 Jahren geboren. Sie eint aber nicht nur ihr Geburtsjahr, sondern auch, dass sie das Genre der Oper revolutionierten und es auf einen seither nicht mehr erreichten Zenit führten - freilich auf ganz verschiedenen Bahnen, so dass sie bis heute als Antipoden wahrgenommen werden.

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Mit dem Erstarken des Bürgertums und dem Entstehen der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert verlagerte sich das musikalische Leben von Hof und Kirche in die großen Konzert- und Opernhäuser, die nun in allen größeren Städten aus dem Boden schossen und Ausmaße von Palais und Kathedralen annahmen. Große Orchester und große Chorvereinigungen wurden gegründet. Dem bürgerlichen Publikum wurde Musik zu einer neuen Religion.

Insbesondere Deutschland und Italien, die sich beinahe zeitgleich aus zersplitterten Königreichen, Fürstentümern und Stadtstaaten zu einem Nationalstaat vereinigten, suchten nach einer Nationalbühne, nach einer nationalen Musik. Die Komponisten bekamen die Funktion, diesen Bedarf zu stillen. Sie fanden sich in einem - nun kommerziellen - Markt und damit in einer Konkurrenzsituation wieder. Vor diesem Hintergrund schufen Wagner und Verdi ihre Opernwerke, um eben jene zu bedienen, die sie singen oder hören würden.

Durst nach Fortschritt

Was beide verband, war der Glaube an die expressive Kraft der Musik, war die Suche nach dieser Kraft in Harmonik, Klangfarbe und Melodik sowie deren Projektion als Stimme der Musik - aber es verband sie auch ihre Auflehnung gegen alles, was nach Regel und Autorität roch. Veränderung, Fortschritt waren angesagt - Charles Darwins „Entstehung der Arten“ war soeben erschienen -, unüberhörbar war dieser Anspruch seinerzeit etwa in Wagners „Tristan-Akkord“, einer Erweiterung des harmonischen Spektrums, das die Atonalität späterer Epochen vorausahnte.

Johan Botha als Siegmund und Edith Haller als Sieglinde in "Die Walküre"

APA/EPA/Bayreuth Festival/Nrico Nawrath

Edith Haller und Johan Botha in der Bayreuther „Walküre“-Aufführung von 2010

Als fortschrittlich galten Veröffentlichungen Wagners wie „Die Kunst und die Revolution“ und „Das Kunstwerk der Zukunft“. Wagner wollte seine Werke dem Begriff Oper herausgewachsen sehen, sie waren „Musikdramen“ oder, wie bei „Tristan und Isolde“, einfach eine „Handlung in drei Aufzügen“. Seiner Ansicht nach stellten sie nicht einfach ein leidenschaftliches Drama dar, das auf einer Bühne gesungen wurde, sondern „die ersichtlich gewordenen Taten der Musik“.

Verdi war dagegen kein radikaler Revolutionär. Er hielt sich an die Dur-Moll-Harmonik und den bis dahin gültigen Arien- und Szenenaufbau, dennoch verwandelte auch er - der Belcanto-Tradition überdrüssig - die Oper durch die Aushöhlung der von Gioachino Rossini durchgesetzten Konventionen. Spätestens mit „Othello“ und „Falstaff“ stieß er die Türen weit zur Moderne auf. Im Unterschied zu Wagner äußerte sich Verdi aber nie öffentlich zu seinen Werken.

Dichtung und Wahrheit

Zum anderen - und das ist ein weiteres Merkmal, das beide verband - bezogen sie Dichtung ein, die nun musikalisch vermittelt wurde; ob nun wie bei Wagner mit eigenen Textbüchern oder wie bei Verdi, der auf Werke von Friedrich Schiller, George Byron, William Shakespeare und Victor Hugo zurückgriff. So große Abstriche dieser dabei machen musste, um sich Ärger mit der Zensur zu ersparen, so skurrile Seiten nahm die Dichtung des anderen mitunter an: „Weia! Waga! Woge du Weile. Wagalaweia! Wallala weiala weia!“, singt Woglinde in Wagners „Rheingold“.

Beide schrieben Familiendramen. Wagners Quelle für sein Kunstwerk der Zukunft war die Vergangenheit. Der Deutsche griff auf mythologische Stoffe zurück, um eine allgemeingültige Aussage zu erlangen, und empfahl seiner Gegenwartsgesellschaft die Erlösung durch Untergang. Im Blick hatte er stets ein Gesamtkunstwerk aus Sprache und Musik, aus Regieanweisungen, Bühnenbild und Kostümen - etwas, das es zuvor nur in den großen Passionsspielen gegeben hatte. Im „Parsifal“ schuf Wagner dann auch tatsächlich eine Art Passionsmusik.

Verdi war die Idee einer solchen Kunstreligion fremd. Der Italiener befasste sich mit anderen, in persönlichen und Gefühlen und Beziehungen wurzelnden Stoffen: Die „Trilogia popolare“ dreht sich um Liebe, Eifersucht und Verwechslungen. Während Wagner im „Ring der Nibelungen“ mit Göttern, Halbgöttern und mythischen Wesen wie Siegfried und Brünnhilde operierte, ging es Verdi um lebensnahe Charaktere und Typen wie Rigoletto und Violetta, deren Schicksal aus der jeweiligen Situation heraus illustriert wird, wo immer die Libretti angesiedelt sind.

Melodielinien versus Leitmotivteppich

Das zeitgenössische Publikum fühlte sich angesprochen und konnte sich wiedererkennen. Wiederkennbar waren auch die Melodien, in die Verdi die Emotionen und Probleme seiner Figuren übersetzte. Dem vokalen Ausdruck ist die Begleitung stets untergeordnet. Gerade dieses Übergewicht des Gesangs über das Orchester, das an die Leichtigkeit Wolfgang Amadeus Mozarts gemahnt, sprach das Publikum emotional an, und machte Verdis Musik volksnah.

Giacomo Prestia und der Chor in einer Szene aus Verdis Oper "Nabucco" 2001 in der Staatsoper Wien

APA/Axel Zeininger

Chor in Verdis Oper „Nabucco“ 2001 an der Wiener Staatsoper

Wagner wiederum fehlte diese Leichtigkeit Verdis. Er setzte viel stärker auf die musikalische Überzeugungskraft seines Gesamkunstwerkanliegens und richtete alles nach dem Leitmotiv als Träger des dramatischen Ausdrucks aus. Oft hat nicht der Sänger die Melodielinie, sondern das Orchester, in das sich der Gesang einfügt. Zwar wird dadurch eine Illusion erzeugt, die fast schon filmisch wirkt, dennoch haftet dem Leitmotiv mitunter etwas Gewaltsames und Grobschlächtiges an. Verdi empfand Wagners Werk auf dem Weg zu einer „sinfonisch geprägten Oper“, diese Entwicklung lehnte er immer ab.

Deutschtum und Italianitá

So richtig dominant wurde Wagners Einfluss erst später, als seine Witwe Cosima ihm ein dauerhaftes Denkmal geschaffen hatte: die Bayreuther Festspiele, bei denen jeden Sommer seine Werke, und nur seine, aufgeführt wurden und bis heute werden. Verbunden war damit eine unsägliche Verstrickung mit der Politik. Deutschtum und Judenhass waren fester Bestandteil von Wagners Weltanschauung, Kaiser Wilhelm I. pilgerte auf den Grünen Hügel, ebenso Adolf Hitler, und Bayreuth wurde zum Hort der antimodernen, antisemitischen und antidemokratischen Tendenzen des völkischen Lagers.

Auch Verdi wurde von der Politik vereinnahmt. Der Gefangenenchor aus „Nabucco“ wurde als revolutionäre Hymne gedeutet und die Person Verdi als Repräsentant des „Risorgimento“ (der Einigungsbewegung Italiens) instrumentalisiert. „Viva Verdi“ wurde als politischer Slogan für die neue Monarchie „Viva Vittorio Emanuele, Re d’Italia“ gebraucht, der Komponist selbst vier Jahre lang als Abgeordneter ins erste italienische Parlament gewählt.

Die Welt als Theater

Verdi mag zwar der Inbegriff der Italianitá gewesen sein, zur Mythenbildung eignete sich sein Leben allerdings kaum. Während er sich zuallererst als „Mann des Theaters“ verstand, sich gern auf sein Landgut zurückzog und ein Altersheim für mittellose Musiker gründete, stilisierte sich Antipode Wagner zum Revolutionär und Propheten, der Bühnenvisionen erschauen und sich mit einem eigenen Opernhaus nur für seine eigene Musik selbstverwirklichen wollte. Wie ein Resümee für beide steht am Ende von Verdis „Falstaff“ die Einsicht, dass die Welt zum Theater wird und das Theater zur Welt.

Armin Sattler, ORF.at

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