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60 Meter unter dem Wasser

Die Millionenmetropole Istanbul ist das größte Wirtschaftszentrum der Türkei. Das Wirtschaftswachstum lässt aber nicht nur die Bevölkerung sprunghaft ansteigen, sondern auch den Verkehr. Ein Eisenbahnprojekt soll Abhilfe schaffen. Das Herzstück, der Tunnel unter dem Bosporus, wird nach jahrelangen Verzögerungen 2013 nun endlich fertig.

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Es sind nur 13,6 Kilometer des gesamten 76 km langen Marmaray-Projekts, doch dieses Stück hat es in sich: Der Bosporus-Tunnel verläuft auf europäischer Seite unter der historischen Halbinsel mit der Hagia Sophia, der Blauen Moschee und dem Topkapi Palast hindurch. Dann folgen 1,4 Kilometer in einer eigens im Meer versenkten stählernen Tunnelröhre, bevor die Eisenbahnstrecke auf der asiatischen Seite wieder an Land trifft.

Fähre vor Istanbul

Reuters/Murad Sezer

50.000 Schiffe fahren im Jahr über den Bosporus, dazu kommen noch unzählige Fähren und kleinere Lastenboote

Die Bauarbeiten gingen jahrelang nur schleppend voran. Einerseits weil archäologische Funde die Maschinen immer wieder stoppten, andererseits weil eine nur 20 Kilometer entfernt verlaufende, aktive tektonische Verwerfungslinie bautechnisch völlig neue Lösungen forderte. Am 29. Oktober 2013, zum 90. Jahrestag der Gründung der türkischen Republik, soll der Tunnel aber endlich feierlich eröffnet werden.

Marmaray-Projekt

Marmaray leitet sich von Marmarameer und dem türkischen Wort für Schiene - ray - ab. Durch die neue Eisenbahnlinie soll sich der Anteil des Schienenverkehrs in Istanbul von 3,6 Prozent auf 27,7 Prozent erhöhen.

150 Jahre alter Traum realisiert

Von einer Verkehrsverbindung unter dem Bosporus hindurch wurde schon rund 150 Jahre lang geträumt. Die ersten Entwürfe stammen von osmanischen Sultanen, die von einer „neuen Seidenstraße“ bis nach China schwärmten. Die Pläne scheiterten jedoch an der großen Tiefe des Bosporus.

Doch die Idee tauchte immer wieder auf, aber erst als in den 80er Jahren der wachsende Verkehr die Stadt völlig zu verstopfen drohte, wurde ernsthaft über diese Alternative nachgedacht. 1999 unterzeichnete der türkische Staatsminister Recep Onal mit Japan einen Projektvertrag. Er sah ein Darlehen in Höhe von 117 Mio. US-Dollar (95 Mio. Euro) vor und eine Bauzeit von vier Jahren.

Karte mit Marmaray-Tunnel

APA/ORF.at

Die Eisenbahnstrecke verläuft von Halkali auf der europäischen Seite über den Bosporus bis zur asiatischen Seite

Die Route verlief ähnlich dem schon 1860 vorgeschlagenen Weg. Neben dem Tunnel wird zudem die zu beiden Seiten der Stadt verlaufende Eisenbahnstrecke komplett erneuert. Insgesamt wurden 76 Kilometer dreigleisig ausgebaut, drei neue unterirdische Stationen gebaut und 37 Bahnhöfe saniert, 165 Brücken und 63 Unterflurtrassen erneuert oder neu geschaffen. Dazu kommt noch ein modernes Kontrollzentrum und ein komplett neues elektrisches und mechanisches Bahnsystem mit 440 neuen Zuggarnituren.

Baustopp nach archäologischen Funden

Die ursprünglich geplanten Baukosten blähten sich zu einer Summe von fast drei Milliarden Euro auf. Den größten Teil der Finanzierung tragen die Japan Bank für Internationale Kooperationen (JBIC) und die Europäische Investitionsbank (EIB). Wie viel das ehrgeizige Projekt im Endeffekt tatsächlich kosten wird, darüber halten sich die Verantwortlichen bedeckt. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die ursprünglich veranschlagte Summe deutlich überschritten wird.

Ausgrabungen auf Marmaray-Baustelle

Reuters/Fatih Saribas

Der alte byzantinische Hafen schrieb die Geschichte der Stadt um

Auch von den vier Jahren Bauzeit ist man mittlerweile weit entfernt. Vor allem der Weg unter der Halbinsel war beschwerlich. Jeder Zentimeter Erde wurde von einem Archäologenteam genauestens auf historische Funde überprüft. Als dann die Arbeiter tatsächlich auf einen alten Byzantinischen Hafen stießen, musste die Bautätigkeit gleich für fast fünf Jahre eingestellt werden. Fünf historische Schiffe wurden freigelegt, die die Geschichte der Stadt völlig neu schrieben. Durch den Fund ist belegt, dass die Stadt schon vor 8.000 Jahren besiedelt wurde, und nicht wie angenommen vor 3.000.

Doch auch wenn diese Sensationsfunde die Zeitungen und Geschichtsbücher füllten, gingen doch fünf wertvolle Jahre verloren, in denen der Verkehr stetig zunahm. In den letzten drei Jahrzehnten explodierte die Bevölkerung von 2,5 Millionen auf heute geschätzte 14 Millionen Menschen. Vor allem junge Menschen werden vom boomenden Arbeitsmarkt angelockt - und der Hunger nach neuem Wohnraum ist kaum bewältigbar. Während das Stadtzentrum durch den Berufsverkehr und die Touristenströme längst heillos verstopft ist, braucht es auch dringend bessere Anbindungen zu den schnell wachsenden Vorstädten.

Neben den archäologischen Funden waren die Ingenieure aber noch mit weiteren Problemen konfrontiert. „In dem Gebiet gibt es ein großes Risiko für starke seismische Aktivität“, erklärte der Vizeprojektleiter Mehmet Cilingir gegenüber dem US-Sender CNN. Für das 1,4 Kilometer lange Stück im Meer wurden elf vorgefertigte Röhrenstücke aus Stahl und Beton von Spezialschiffen in eine Tiefe von 60 Metern abgesenkt und unter Wasser zusammengebaut, was bei einer Strömung von fünf Knoten eine besondere Herausforderung darstellte. Die Tunnelsegmente wurden mit erdbebensicheren Verbindungsstücken zusammengefügt.

Nächstes ehrgeiziges Projekt wartet schon

Dass der Fertigstellungstermin mit 2013 hält, davon ist der türkische Verkehrsminister Binali Yildirim überzeugt: „14 Millionen Menschen warten schon hart darauf.“ Der Tunnel werde eine deutliche Entlastung für Autofahrer und Fährschiffer bringen, so Yildirim. Bis zu 75.000 Personen sollen pro Stunde zwischen Europa und Asien transportiert werden. Auch will die Regierung vom steigenden Güterverkehr profitieren. Züge sollen nun ohne Unterbrechung von Paris über die Türkei, Iran und Indien bis nach China fahren können.

Während am Eisenbahntunnel noch fieberhaft gearbeitet wird, ist das nächste Milliardenprojekt bereits in der Pipeline. Einen Kilometer südlich vom Marmaray-Projekt soll zusätzlich ein Autobahntunnel entstehen. Der Eurasia-Tunnel durch den Bosporus soll an der tiefsten Stelle 61 Meter unter dem Wasserspiegel verlaufen. Die Gelder für das 800 Mio. Euro teure Projekt sind schon gesichert. 700 Mio. Euro kommen von einem südkoreanischen Konsortium, das sich 18 Jahre lang die Rechte als Tunnelbetreiber gesichert hat.

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