Düstere Szenarien
Der demokratische US-Präsident Barack Obama und die Republikaner kommen im Schuldenstreit nicht auf einen grünen Zweig. Ein Scheitern bei der Suche nach dem Kompromiss, um die „Fiskalklippe“ zu verhindern, könnte gravierende Folgen haben, und zwar weltweit.
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Rezession, Millionen neue Arbeitslose und ein Dominoeffekt in der Weltkonjunktur: Ökonomen entwerfen düstere Szenarien, sollten die USA tatsächlich automatisch die größte Steuererhöhung und Haushaltskürzung seit dem Zweiten Weltkrieg in Kraft setzen. Alles hängt davon ab, ob sich Obama und die Republikaner rechtzeitig einigen, wie sie dieses „Fiscal Cliff“ vermeiden können.
Immense Kürzungen und Steuererhöhungen
Eine legitime Kurzdefinition der „Fiskalklippe“ wäre: viel zu viel Sparsamkeit in viel zu kurzer Zeit. Die Phrase formulierte US-Notenbankchef Ben Bernanke Anfang des Jahres. Er warnte damit in einer Kongressanhörung vor einer ganzen Reihe von Steuererhöhungen und Kürzungen im Staatshaushalt, die alle mehr oder minder zufällig gemeinsam am 1. Jänner 2013 in Kraft treten. Bernanke wollte verdeutlichen, dass die US-Wirtschaft über eine Klippe rasen und in den Abgrund fallen könnte, sollten sich die Politiker nicht rechtzeitig auf Gegenmaßnahmen einigen.
Angriff auf schwächelnde Wirtschaft
Die Erhöhungen der Steuern und Sozialabgaben sowie auslaufende Unterstützungsprogramme für Arbeitslose und Arme sind so immens, dass sie den Konsum abwürgen könnten. Da rund 70 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von Verbraucherausgaben abhängen, würde das ohnehin schwache Wirtschaftswachstum rapide gebremst - und das Land zurück in die Rezession fallen.
Das Budgetbüro des Kongresses (CBO) befürchtet einen Rückgang der Wirtschaftsleitung um zunächst 0,5 Prozent. Auch die ab 2013 gesetzlich verankerten staatlichen Budgetkürzungen nach dem Rasenmäherprinzip entziehen der Wirtschaft wichtige Nachfrage. Insgesamt könnten 3,4 Millionen Arbeitsplätze verloren gehen.
Weltweiter Dominoeffekt erwartet
Die USA sind die weltgrößte Volkswirtschaft und damit immer noch Taktgeber für die globale Konjunktur. Deshalb appelliert etwa der Internationale Währungsfonds (IWF) schon seit Monaten mit Nachdruck an die US-Politiker, die „Fiskalklippe“ zu vermeiden. IWF-Direktorin Christine Lagarde erneuerte immer wieder ihre Warnung in TV-Interviews: Wenn das Land beim Wachstum nachlasse, „wird es einen Dominoeffekt außerhalb der USA geben“, sagte sie voraus. Am meisten litten die Nachbarstaaten Kanada und Mexiko, dann Europa, Japan und so weiter.
Mehr als 3.000 Euro pro Familie weniger
Die Steuererhöhungen betragen nach einer Berechnung der „Washington Post“ 500 Milliarden Dollar (386 Mrd. Euro) - oder mehr als 3.000 Dollar, die Durchschnittsfamilien pro Jahr weniger in der Brieftasche haben würden. Knapp die Hälfte kommt davon, dass die vom früheren Präsidenten George W. Bush eingeführten Steuersenkungen auslaufen.
Zudem enden die von Obama als Konjunkturprogramm angelegten weiteren finanziellen Erleichterungen. Auch andere temporäre Schlupflöcher für Bürger und Firmen stehen vor dem Aus. Die Einsparungen in nahezu allen Behörden sowie im Gesundheitsbereich betragen weitere 200 Milliarden. Alles zusammen sind das rund vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Der Zufall führt Regie
Bei einer Verschuldung von rund 100 Prozent und einem Defizit von etwa sieben Prozent des BIP halten Ökonomen die Haushaltsprobleme des Landes wahrlich für besorgniserregend. Allerdings ist die „Fiskalklippe“ kein sorgsam erarbeiteter Sparplan, sondern ein Zufallssammelsurium aus gleichzeitig in Kraft tretenden Gesetzen. Manche davon können der Wirtschaft schwer schaden, während manch sinnvolle andere Sparmaßnahme nicht Teil der Gesetze sind. Experten meinen daher, die Politik müsse maßgeschneiderte Sparlösungen finden, statt über die Klippe zu gehen.
Ideologische Gegensätze
Die Suche nach einem Kompromiss ist so hart, weil die Republikaner und die Demokraten unterschiedliche Wirtschafts- und Sozialmodelle verfolgen. Die Republikaner wollen auf keinen Fall die Steuersätze erhöhen, weil das ihrer Meinung nach der Wirtschaft schaden würde.
Zugleich wollen sie vor allem im Gesundheits- und Sozialsektor sparen, nicht aber bei der Verteidigung. Obama und seine Demokraten beharren dagegen darauf, die Steuern für Wohlhabende deutlich zu erhöhen. Zugleich wollen sie möglichst wenig an den Sozialprogrammen ändern. Während sie sich bei den Einsparungen vermutlich in der Mitte treffen könnten, sind die Fronten im Steuerstreit extrem verhärtet.
Nächster Streit so gut wie fix
Unmittelbar dürfte nicht viel passieren. Viele Experten sprechen heute auch eher von einem „Fiscal Slope“, also einen Abhang, den die USA langsam hinabrutschen, statt dramatisch von einer Klippe zu fallen. Denn höhere Steuern und Einsparungen im Staatshaushalt wirken sich eher langsam aus. Allerdings könnten die Aktienmärkte ganz schnell negativ reagieren und die US-Gesetzgeber unter Druck setzen - auch eine Abstufung des Kreditratings für US-Staatsanleihen scheint nicht ausgeschlossen, wenn sich die Politik als handlungsunfähig erweist.
Schon bald droht der nächste große politische Streit. Dann muss der Kongress die selbst gesteckte Schuldenobergrenze der USA erhöhen. Das Limit liegt derzeit bei rund 16,4 Billionen Dollar. Bei derzeit gut 16,2 Billionen Schulden muss es vermutlich im Februar oder März angehoben werden. Sonst ist das Land zahlungsunfähig. 2011 hatte der eigentlich als Routine geltende Vorgang zu der Auseinandersetzung geführt, die letztlich den Weg zur „Fiskalklippe“ ebnete.
Marco Mierke, dpa
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