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Die „elegante Langeweile“

Für viele Politiker und Beamte war der Regierungsumzug von Rio de Janeiro nach Brasilia vor über 50 Jahren ein Grauen und alles andere als verlockend. Zu süß waren die Vorteile der alten Hauptstadt Rio, der „Cidade Maravilhosa“, der „Wunderbaren Stadt“, mit ihren weißen Stränden, ihrem Charme, den eleganten Cafes und dem pulsierenden Nachtleben.

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Warum um alles in der Welt, fragten sich viele, umziehen in die Ödnis der Sertao, der Hochlandsavanne von Goias im Landesinneren? Warum in eine traditionslose Stadt, die eiligst in nicht einmal vier Jahren aus dem Boden gestampft wurde? Es nutzte nichts: Brasilia wurde am 21. April 1960 neue Hauptstadt. Aber gerade einmal 1,1 Prozent der zögerlichen Regierungsbeamten waren zum Stichtag an ihrem neuen Arbeitsplatz.

Heute leben 2,5 Millionen Menschen im Bundesdistrikt Brasilia. Im Zentrum der Stadt wirken die Monumentalbauten des Architekten Oscar Niemeyer auch nach einem halben Jahrhundert entrückt, unwirklich und trotz ihrer Größe grazil. Brasilias Kathedrale, der Kongress, der Gerichtshof und der Präsidentenpalast sind weltbekannt.

Der Nationale Kongress, designed von Architect Oscar Niemeyer

AP/Mario Fontenelle, Arquivo Publico de Brasilia

In nur fünf Jahren wurde im Herzen Brasiliens eine neue Hauptstadt aus dem Boden gestampft

Koordinaten statt Straßennamen

Die meisten Einwohner leben in riesigen Satellitenstädten. In der als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannten Kernstadt selbst wohnen knapp 200.000 Menschen. Straßennamen sucht man vergeblich. Wer nach einer Adresse fragt, nennt Koordinaten, die sich aus Hieroglyphen wie „W3“, „L2“, „QI-14“, den Nummern der Blöcke und den Zusätzen Nord- oder Südflügel zusammensetzen.

„Das ist viel einfacher, als sich unzählige Straßennamen zu merken. Reine Logik. Man muss nur rechnen, und schon findet man sich zurecht“, sagt Adriano, der Taxifahrer. Beim Anflug auf die Retortenstadt, deren Kern von 1957 bis 1960 im Rekordtempo hochgezogen wurde, wird einem schnell klar, warum die meisten an ein Flugzeug denken, wenn sie Brasilia aus der Luft oder auf dem Plan sehen. Es scheint, als gäbe es ein Cockpit, einen Rumpf und zwei Tragflächen. Stadtplaner Lucio Costa (1902 bis 1998) hatte sich über diesen Vergleich stets geärgert: „Es ist zwar eine akzeptable Analogie, aber es wäre doch der Gipfel der Lächerlichkeit, eine Stadt nach einem Flugzeug zu bauen.“

Der Nationale Kongress, designed von Architect Oscar Niemeyer

AP/Mario Fontenelle, Arquivo Publico de Brasilia

Brasilia mit dem Nationalkongress als zentrales Bauwerk wurde 1987 zum Weltkulturerbe erklärt

Aufruf zu „Marsch nach Westen“

Die Idee einer Hauptstadt im Landesinneren tauchte schon Anfang des 19. Jahrhunderts auf. Das Ziel war immer, das rückständige Binnenland Brasiliens an der Entwicklung und dem Fortschritt teilhaben zu lassen. Auch Präsident Getulio Vargas, der Brasilien rund zwei Jahrzehnte - von 1930 bis 1945 und von 1951 bis 1954 regierte - hatte das Motto „Marsch nach Westen“ ausgegeben und seine Landsleute zum Umzug ins Landesinnere ermahnt.

Als Gründer Brasilias gilt aber der populäre Präsident Juscelino Kubitschek de Oliveira, kurz JK („Jota-Ka“) genannt. „Ohne ihn gäbe es Brasilia nicht“, sagt Luciano Tourinho, Direktor der Tourismusbehörde, die einen Großteil der Feiern am 21. April organisiert. Kubitschek war 1955 mit einem 30-Punkte-Plan in den Wahlkampf gezogen und gab am 4. April 1955 gleich bei der ersten Wahlkampfveranstaltung das Versprechen: „Während meiner fünf Jahre werde ich den Umzug des Regierungssitzes vollziehen und eine neue Hauptstadt bauen.“ JK gewann die Wahl und stand in seiner fünfjährigen Amtszeit vor der Herkulesaufgabe, den Regierungsumzug in eine Stadt zu organisieren, die es noch gar nicht gab.

„Cinquenta anos em cinco“ („50 Jahre in fünf“) - so lautete das vorgegebene Arbeitspensum. Stadtplaner Costa gewann 1957 die Ausschreibung mit seinem Entwurf - dem „Plano Piloto“ - und gemeinsam mit dem bekennenden Kommunisten Niemeyer machte er sich ans Werk. „Wenn man ein öffentliches Gebäude von mir verlangt, dann versuche ich immer, eine Überraschung zu schaffen, weil die Armen zumindest vorbeigehen könnten und einen Moment der Freude erleben, wenn sie etwas Neues sehen“, beschrieb Niemeyer einmal seine Schaffensmotivation.

Eine Stadt in Kreuzform

Die Form der futuristischen Stadt erinnert an ein Kreuz oder ein Flugzeug; alle Paläste scheinen in der Luft zu schweben. Im Regierungsbezirk stehen zwei der harmonisch gestalteten Meisterwerke Niemeyers: das Außenministerium „Palacio de Itamaraty“ inmitten eines Teiches und das Justizministerium mit seinen künstlichen Wasserfällen. Niemeyer habe in Brasilia seine „tropische Fantasie“ entfaltet, sagte einmal Bauhaus-Architekt Walter Gropius. Doch die imponierenden Gebäude haben inzwischen Risse bekommen. „Heute erinnert das hier eher an den Totalitarismus des früheren Ostblocks“, sagt ein ausländischer Korrespondent.

Auch die sozialen Probleme der Stadt sind seit Jahren Thema. Die Arbeitslosigkeit liegt weit über dem Landesdurchschnitt. In die verarmten Vororte strömen zu Zehntausenden Menschen aus dem armen Nordosten, um ein Stück vom Wohlstandskuchen abzubekommen. Die Zahl der Straßenhändler wachse täglich, heißt es.

Probleme mit Jugendgangs und Kriminalität

„Was haben sie nur mit den vielen Arbeitern gemacht, die so viel zum Aufbau Brasilias beigetragen haben? Sie wurden in die Randgebiete gedrängt“, schimpfte Architekt Niemeyer einmal im Gespräch mit der dpa. Die Folgen des schnellen Wachstums spiegeln sich auch auf den vermischten Seiten der Tageszeitungen wider. Keine Stadt hat so viele Probleme mit Jugendgangs, die in Brasilia schon Indios oder schlafende Bettler in Brand gesetzt haben. Menschenrechtsgruppen weisen immer häufiger auf Neonazi-Gruppen hin, die nachts im Stadtpark Homosexuelle und Schwarze verprügeln oder töten.

Der Priester Dom Bosco hatte 1883 prophezeit, dass inmitten Südamerikas, und zwar in den Koordinaten der heutigen Stadt Brasilia, eine neue Kultur in einem Land mit Milch und Honig entstehen würde. Doch heute setzt kaum ein Brasilianer mehr einen Groschen darauf, dass Brasilia vielleicht noch wie angekündigt die „Hauptstadt des dritten Jahrtausends“ werden wird. „Freiwillig kommt keiner hierher“, sagte auch heute noch ein europäischer Diplomat und erinnert daran, dass die Schriftstellerin Simone de Beauvoir bei einem Besuch einmal von „eleganter Langeweile“ sprach.

Helmut Reuter und Emilio Rappold, dpa

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