Zwischen „Tauwetter“ und „Perestroika“
Es sei die Bestimmung des Architekturzentrums (AzW), Unbekanntes und dennoch international Bedeutendes nach Wien zu bringen, erklärt AzW-Direktor Dietmar Steiner bei der Pressekonferenz zur Ausstellung „Sowjetmoderne 1955 - 1991“. Tatsächlich hat man sich mit der neuen Schau auf weitgehend unerforschtes Terrain begeben und erstmals umfassend die Architektur der nicht russischen Sowjet-Republiken erforscht.
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Armenien, Aserbaidschan, Estland, Georgien, Lettland, Litauen, Moldawien, Kasachstan, Kirgistan, Ukraine, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Weißrussland: Bis heute ist die Wahrnehmung der Architekturmoderne der Ex-Sowjet-Republiken von vielen Vorurteilen geprägt, die man mit der Ausstellung widerlegen will. Der Baustil sei durchwegs technokratisch, ohne ästhetischen Anspruch, gelenkt von staatlichen Planungsfirmen und Architekturkollektiven, so die gängige Meinung, erklärt Steiner.

Markus Weisbeck
Die 1960 erbaute Sängerbühne gilt bis heute als Wahrzeichen der estnischen Hauptstadt Tallinn
Einteilung in vier Regionen
In der Ausstellung werden die Länder nach Regionen in vier Schwerpunkte - Baltikum, Osteuropa, Kaukasus und Zentralasien - zusammengefasst. Neben geografischen Gegebenheiten waren dafür vor allem architektonische Parallelen und Unterschiede ausschlaggebend.
Während sich etwa die baltischen Staaten (innerhalb der Sowjetunion als „typisch europäisch“ betrachtet) stark an der Architektur Skandinaviens im Allgemeinen und Finnlands im Speziellen orientierten, hatten die osteuropäischen Regionen von Weißrussland bis Moldawien weniger Probleme mit dem stilistischen Anschluss an Russland.

Weißrus. Staatsarchiv f. wiss.-tech. Dokumentation
Wohnhaus an der Minskaja-Straße, 1980er Jahre, Weißrussland
Mythen nach Ideologie des Kalten Kriegs
Obwohl vieles von Kollektiven und Firmen gebaut worden sei, wäre auch die Annahme, dass die Autorenschaft ein weitgehend ausgeklammertes Thema war, laut Steiner so nicht richtig. Es hätte definitiv einen Austausch zwischen den Architekturstudios in den einzelnen Ländern gegeben, aber auch ein ausgefeiltes Wettbewerbssystem innerhalb der Sowjetunion.
Die Ideologie des Kalten Krieges hätte den kommunistischen Osten fälschlicherweise stets als abgeschottet von jeglichem Zugang zu westlichen Erkenntnissen und Entwicklungen der Architektur des Kapitalismus dargestellt, erklärt der AzW-Direktor, der mit den Kuratorinnen Katharina Ritter, Ekaterina Shapiro-Obermair und Alexander Wachter mehrere Reisen durch die Regionen unternommen und dabei zahlreiche Architekten und Historiker zu Interviews getroffen hat.
Zeitlich ordnen sich die für das Projekt Sowjetunion betrachteten Bauwerke zwischen Nikita Chruschtschows „Tauwetter“-Periode Anfang der 1950er Jahre bis zu Michail Gorbatschows „Perestroika“ ein. Dem Ausstellungsuntertitel „Unbekannte Geschichten“ werden die Kuratorinnen mit auf Monitoren gezeigten Experteninterviews gerecht. Ausgehend gelingt es ihnen so, trotz der scheinbar dürftigen Quellenlage, sowohl in der Schau als auch im Katalog ein recht umfassendes Bild des sehr breiten Themas zu zeichnen.
Auch im Osten lange Zeit geschmäht
Dass man der Sowjet-Architektur primär mit Klischeevorstellungen beladen begegne, sei kein westliches Phänomen. Auch in Russland und den ehemaligen Sowjet-Republiken lerne man das architektonische Erbe erst langsam zu schätzen, erzählt Irina Korobina, die Direktorin des Moskauer Schtschussew-Architekturmuseums bei der Pressekonferenz. Man habe in ihrer Studienzeit die heimische Architektur regelrecht gehasst, als hässlich empfunden und keiner Würdigung wert gefunden. Erst in den letzten Jahren entsteht - oftmals angestoßen durch den Blick von außen - auch ein internes Interesse an den Bauten.
Ausstellungshinweis
„Sowjetmoderne - 1955 - 1991/Unbekannte Geschichten“, bis 25. Februar 2013, AzW im MQ, täglich 10.00 bis 19.00 Uhr. Zur Ausstellung ist ein Katalog (360 Seiten, 48 Euro) erschienen.
Von 24. bis 25. November findet im AzW der 19. Wiener Architektur-Kongress statt.
Möglicherweise keine Minute zu früh, denn bis heute ist eine Katalogisierung und architekturhistorische Aufarbeitung mit wenigen Ausnahmen fast nur in den baltischen Staaten passiert. In vielen Ländern fehlt es nicht nur am Bewusstsein über den Wert der Bauten, sondern - etwa Armenien und Kirgistan - an den nötigen Mitteln, die Bauten zu erhalten. In den boomenden Ex-Sowjet-Republiken blühen den Werken oft eine unsanfte Renovierung und das Verschwinden „unter den Schminkmasken zeitgenössischer Developer-Architektur“.
Sophia Felbermair, ORF.at
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