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Mit Hightech gegen „Kinderbuchniveau“

Mit einer Armada an Köchen, Technikern, Wissenschaftlern und Fotografen hat Nathan Myhrvold rund drei Jahre in einer zur Hightechküche umgebauten Werkshalle verbracht. Erklärtes Ziel des US-Milliardärs: den Geheimnissen der modernen Küche auf den Grund gehen - koste es, was es wolle.

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Zu finden sind Erkenntnisse des Großprojekts nun im sechsbändigen, rund 20 Kilogramm schweren Wälzer „Modernist Cuisine - Die Revolution der Kochkunst“, der laut dem selbsternannten Küchenmissionar Myhrvold weit mehr als nur eine Anleitung für „teures Hightechkochen“ sein solle. Zwar habe man „bewusst“ auf eine Vereinfachung anspruchsvoller Rezepte verzichtet, „um auch die faszinierenden kulinarischen Möglichkeiten von Zutaten wie Flüssigstickstoff und Geräten wie Zentrifugen und Homogenisierern zu zeigen“.

Zwei Fleischstücke liegen auf einem Kohlegrill

2011 Modernist Cuisine, LLC.

Ein Kugelgrill samt rauchenden Burgern im Querschnitt

Dafür gebe es auf den insgesamt 2.440 Seiten aber auch Alltagstaugliches. Gelüftet würden laut dem Kulinarikportal BISS beispielsweise „viele alte Geheimnisse des Kochens“. Jeder „momentan bekannte“ Garvorgang werde demnach, unterstützt durch aussagekräftige Bilder, „schlicht und einfach“ beschrieben. Ungeachtet des offensichtlichen Schwerpunktes Richtung Experimentalküche soll es sich somit auch nicht um eines jener zahllosen „Molekularkochbücher“ handeln, die in den letzten Jahren den Buchmarkt regelrecht überschwemmt haben.

„Jeder Hobbykoch kann profitieren“

Auch Myhrvold selbst zeigt sich überzeugt, dass in seinem Opus magnum für jeden - „egal ob Spitzenkoch oder Amateur“ - zahlreiche „in jeder normalen Küche“ umsetzbare Rezepte zu finden seien. Bleibt zu erwähnen, dass allein in dem als eigenständiges Rezeptbuch ausgewiesenen sechsten Band rund 1.500, allerdings rein textbasierte Kochanleitungen zu finden sind.

Cooking Lab

Für die Umsetzung von „Moderne Cuisine“ war ein als Cooking Lab bezeichnetes Team von Wissenschaftlern, Erfindern und Küchenchefs im Einsatz. Als Leiter fungierte Koautor Maxime Bilet, der sich etwa im Londoner Gourmettempel The Fat Duck einen Namen machte. Dort wirkte auch der ebenfalls als Koautor genannte Mathematiker und Biochemiker Chris Young als Pionier der Experimentalküche.

Jeder Hobbykoch könne profitieren, so der langjährige Technikchef des Softwarekonzerns Microsoft, der im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“) gleichzeitig bemängelte, dass man sich beim Essen derzeit noch „meist auf dem Niveau von Kinderbüchern“ bewege. Der 51-Jährige, der in das Kochbuchprojekt „mehr als eine und unter zehn Millionen Dollar“ investierte, betrachtet sich somit auch in seinem neuen Metier weiter als Visionär.

Stickstoff, Sous-vide-Wasserbad & Co.

Dennoch stellte etwa Gastrokritiker Steve Cuozzo in der „New York Post“ die Frage, ob man die 30 Stunden, die „Modernist Cuisine“ für die Zubereitung eines Burgers vorsieht, nicht besser in das Erlernen der traditionellen Grilltechnik investieren solle. Myhvold, als ehemaliger Barbecue-Weltmeister auch hier verbriefter Spezialist, dürfte sich davon freilich wenig beeindruckt zeigen. Vielmehr müsse man für den „ultimativen Cheeseburger“ nicht nur alles selber machen, sondern dürfe sich auch neuartigen Zubereitungsmethoden nicht verschließen.

Sein Cheeseburger werde jedenfalls im Vakuumbad bei Niedrigtemperatur (Sous-vide-Wasserbad, Anm.) gegart. Zum Einsatz kommt im Anschluss auch flüssiger Stickstoff und schlussendlich eine Fritteuse. Ganz nach alter Schule verwendet Myhrvold diese auch zur Zubereitung der dazu passenden Beilage. Um Pommes allerdings „besonders knusprig“ zu machen, werden diese zuvor gegart und 45 Minuten ins Ultraschallbad gelegt, womit auch hier die Zubereitungszeit in Summe auf rund zwei Stunden steigt.

Seite aus dem Kochbuch mit der Darstellung verschiedener Eierstrukturen

2011 Modernist Cuisine, LLC.

Zwischen 55 und 90 Grad Celsius: Die Zubereitungstemperaturen für gekochte Eier

Der vom „New Yorker“ als „verrücktes Genie“ gelobte Myhrvold scheut offenbar selbst am Frühstückstisch keinen Aufwand. Beim Rezept, das er nach eigenen Angaben am häufigsten aus seiner Kochbibel zubereitet, handle es sich demnach um ein Rührei, das zur vollen Geschmacksentfaltung auch 15 Minuten in einem Kombidämpfer landet.

Ein Querschnitt zeigt Gemüse in der Erde.

2011 Modernist Cuisine, LLC.

„Modernist Cuisine“ bietet auch einen tiefen Einblick in den Gemüsegarten

„Grenzen neu ausloten“

Außer Frage stellt Myhrvold, dass es ihm darum gehe, „die Grenze des Kochens mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden neu auszuloten“. Ziel sei es, „die Grundlagen der Kochkunst für das 21. Jahrhundert zu legen“, wie der anfängliche Autodidakt und spätere Absolvent einer französischen Kochschule im „Spiegel“-Interview weiter betonte.

Hülle mit allen fünf Ausgaben der Buchserie Modernist Cuisine

Taschen Verlag

Buchhinweis

Nathan Myhrvold, Maxim Bilet, Chris Young: Modernist Cuisine - Die Revolution der Kochkunst. Taschen, 2.440 Seiten, 399 Euro.

Nach Ansicht des wohl prominentesten Pioniers der Molekularküche, Ferran Adria, scheint dieses Vorhaben gelungen. Das vom Taschen-Verlag herausgegebene Werk werde „unsere Vorstellung vom Kochen verändern“, wie der spanische Küchenchef auf der Verlagsseite zitiert wird.

Auf den Spuren von Escoffier?

Ob es sich bei „Modernist Cuisine“, wie von US-Restaurantkritiker Tim Zagat betont, allerdings um „das wichtigste Werk der Kochkunst“ seit dem „Guide culinaire“ von Auguste Escoffier (Erstausgabe 1903, Anm.) handelt, wird dennoch - etwa vom „Time“-Magazin - bezweifelt. Auch betrat Myhrvold nur bedingt Neuland: Bereits Anfang der 90er Jahre schrieb etwa der Franzose Herve This-Benckhard mit „Rätsel der Kochkunst“ einen Bestseller und lieferte damit nicht zuletzt auch Köchen wie Adria, Heston Blumenthal und Pierre Gagnaire eine wissenschaftliche Grundlage für ihre später erfolgreiche Experimentalküche.

Trotzdem dürfte das laut „Guardian“ möglicherweise „schwerste Kochbuch“ der Welt allein des Umfangs wegen eine Sonderrolle einnehmen. Wohl mit ein Grund, dass „Modernist Cuisine“ auch das Fachpublikum bei der diesjährigen Kochbuchmesse in Paris verblüffte. Zudem sind sich selbst Kritiker von Myhrvolds Küchenphilosophie einig, dass einige der von der „New York Times“ („NYT“) als „überwältigend“ bezeichneten Bilder einen Blick in das für rund 400 Euro angebotene Mammutwerk rechtfertigen.

Peter Prantner, ORF.at

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