„Ungenügend“ über Gefahren informiert
Dreieinhalb Jahre nach dem schweren Beben in den Abruzzen sind sieben Experten in L’Aquila wegen ungenügender Warnung vor Erdstößen zu jeweils sechs Jahren Haft verurteilt worden. Dieses Urteil in erster Instanz fällte das Gericht von L’Aquila am Montag nach einem mehr als einjährigen Verfahren.
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Es ging damit noch über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus, die jeweils vier Jahre Haft verlangt hatte, wie die Nachrichtenagentur Ansa berichtete. Die Seismologen und Zivilschutzbeamten hätten die Bevölkerung rund um L’Aquila nur „ungenau, unvollständig und widersprüchlich“ über die Gefahren eines Bebens informiert, so die Anklage.

Reuters/Max Rossi
Das Beben richtete ernorme Schäden an
Die Angeklagten hätten die lange Serie kleiner Beben ohne Schäden ignoriert, die in der Region Wochen vor dem Erdbeben registriert worden waren, und die wachsende Sorge unter der Bevölkerung heruntergespielt, so die Staatsanwälte. Die Verteidiger erwiderten, dass Erdbeben unvorhersehbar seien.
„Verstehe nicht, warum ich angeklagt bin“
Entsetzt und schockiert nahmen die Angeklagten und ihre Anwälte das Urteil auf. „Ich verstehe immer noch nicht, warum ich angeklagt bin“, sagte der frühere Chef des Nationalinstituts für Geophysik und Vulkanologie (Ingv), Enzo Boschi. „Ich halte mich vor Gott und den Menschen für unschuldig“, so der ebenfalls verurteilte ehemalige Vizechef des Zivilschutzes, Bernardo De Bernardinis. Der Verteidiger Marcello Petrelli sagte, das Urteil sei unverständlich, „es kann nur Gegenstand einer eingehenden Bewertung in der Berufung sein.“ In Italien werden harte erstinstanzliche Urteile in Berufungsverfahren oft abgemildert.
309 Tote, Zehntausende obdachlos
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft von L’Aquila gegen die Experten wurden nach einer Anzeige von 30 Bürgern eingeleitet. Bei dem Beben am 6. April 2009 wurde das mittelalterliche Zentrum von L’Aquila in ein Trümmerfeld verwandelt. 309 Menschen waren bei dem Erdbeben in der mittelitalienischen Region rund um L’Aquila am 6. April 2009 ums Leben gekommen, 1.600 Menschen wurden verletzt. Zehntausende konnten nicht mehr in ihre zerstörten Häuser zurück.
Eine Klägeranwältin sagte bei ihrer Ankunft Montagvormittag im Gericht, sie erwarte ein „historisches Urteil“. „Ich hoffe, dass sie schuldig gesprochen werden. Sie hatten einen Teil der Verantwortung“, sagte Wania della Vigna, die elf Kläger vertrat. Eine Verurteilung werde dazu führen, dass Wissenschaftler in Zukunft „mehr auf die Konsequenzen achten, wenn sie Ratschläge erteilen“, so die Anwältin weiter. Auch etwa ein Dutzend Überlebende waren in dem kleinen überfüllten Gerichtssaal anwesend.
Treffen sechs Tage vor Beben
Die Angeklagten waren Mitglieder der Kommission für „Große Risiken“, die sich sechs Tage vor dem Erdbeben getroffen hatte. Die Wissenschaftler waren vor dem Beben zu dem Schluss gekommen, dass eine Reihe von vorangegangenen Erdstößen in der Region auf kein erhöhtes Erdbebenrisiko hinweise. Ihre Empfehlungen dienten den Behörden als Entscheidungshilfe. Anschließend erklärte der damalige Vizedirektor des Zivilschutzes, Bernardo De Bernardinis, unter Berufung auf die Wissenschaftler, die seismischen Aktivitäten in L’Aquila stellten „keine Gefahr“ dar.
Empörung in Wissenschaftswelt
Erdbebenforscher und die Verteidigung wiesen in der Diskussion über das Verfahren darauf hin, dass es bisher nicht möglich sei, größere Erdbeben wissenschaftlich vorherzusagen. In der internationalen Wissenschaftswelt waren die Vorwürfe auf Empörung gestoßen. Experten warnten, die Angeklagten würden zu Sündenböcken gemacht. Eine Verurteilung werde dazu führen, dass Wissenschaftler aus Angst vor Prozessen in Zukunft keine Expertise mehr abgeben würden.
Mehr als 5.000 Wissenschaftler hatten zum Prozessauftakt in einem offenen Brief an Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano beklagt, dass den Angeklagten ein Strafprozess gemacht werde, obwohl die Vorhersage von Erdbeben bisher technisch unmöglich sei.
Doch Vorhersage möglich?
Der Erdbebenexperte Giampaolo Giuliani, Forscher des nationalen Physikinstituts Gran Sasso in der Region Abruzzen, hatte indes ein Gerät entwickelt, mit dem er Eigenangaben zufolge schwere Erdbeben vorhersehen konnte. Seine wiederholten Warnungen hatten für große Aufregung in der Bevölkerung gesorgt. Er war jedoch von der Staatsanwaltschaft der Stadt Sulmona wegen unbegründeten Alarmierens angezeigt worden. Das italienische Geophysikinstitut hatte seine Prognosen als vollkommen unrealistisch bewertet.
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