Millionen in Armenvierteln
Es ist ein Meer aus Hütten, das sich am Rande Kabuls bis hoch in die Hügel und Berge des Umlands zieht. Ein paar Millionen Menschen haben sich in den vergangenen zehn Jahren in der afghanischen Hauptstadt angesiedelt. Doch normalen Wohnraum gibt es nach Jahrzehnten des Kriegs und Bürgerkriegs fast keinen.
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Derzeit schätzt man, dass mehr als fünf Millionen Menschen in der Stadt leben. Genaue Zahlen gibt es keine. Schon 2005 berechnete die Weltbank, dass rund 69 Prozent aller Wohngebiete in Kabul wild errichtete Häuser und Hütten sind. Das entspricht einer Fläche von mehr als 71 Quadratkilometern. Rund 80 Prozent der Bevölkerung lebten demnach damals bereits in den sogenannten Squatter-Siedlungen. Dabei ging die Weltbank damals noch von einer Einwohnerzahl von rund drei Millionen aus.

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Manche Häuser sind Lehmhütten, andere wurden bereits aus Beton gefertigt - trotzdem fehlt das Allernötigste
Kein Wasser, selten Strom
Die allermeisten der Häuser verfügen über keinen direkten Zugang zu Wasser und Strom. Rund 45 Prozent aller Haushalte in Kabul und im Umland haben keine Wasserversorgung. Das Stromnetz wurde zwar in den vergangenen Jahren bis zu einer Abdeckung von fast 90 Prozent ausgebaut, in den Armensiedlungen ist davon allerdings kaum etwas zu merken.
Zudem können sich die meisten Familien Strom auch gar nicht leisten: Geregelte Einkommen gibt es kaum, Gelegenheitsarbeiten sind zumeist die einzigen Einnahmequellen. Auch die zahlreichen Hilfsprojekte von internationalen Organisationen sind zumeist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

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Die Wasserbeschaffung ist vor allem in dem unwegsamen Gelände zeit- und kostenintensiv
Millionen Rückkehrer
Der Großteil der Bewohner der informellen Siedlungen sind ehemalige Flüchtlinge, die das Land in den Kriegswirren verlassen hatten. Nach dem Sturz der Taliban kehrten Millionen vor allem aus Pakistan und dem Iran wieder zurück. Allein zwischen 2002 und 2004 gab es rund 3,7 Millionen Rückkehrer. In den Jahren darauf folgte eine weitere Million - und die meisten zog es in die Hauptstadt. Dazu kamen Binnenvertriebene, die vor Konflikten aus anderen Provinzen nach Kabul flüchteten sowie Menschen aus ländlichen Gebieten, die in die Hauptstadt zogen, um nach Arbeit zu suchen.

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Die Regierung sieht die Bewohner der Siedlungen als temporär an, berichtet die Deutsche Welthungerhilfe. Nicht offiziell anerkannt, erhalten sie auch keine Unterstützungen.
Mittelschicht kann sich keine Wohnungen leisten
Doch das Problem betrifft nicht nur die Ärmsten. Selbst für die Mittelschicht ist Wohnraum kaum finanzierbar. Die Mietpreise haben sich in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt. Eine Dreizimmerwohnung kostet laut einem Dossier des deutschen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge mehr als 500 US-Dollar. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Monatslohn in Kabul beträgt umgerechnet 75 bis 100 US-Dollar. Die letzten größeren Investitionen in den Wohnbau datieren noch aus den 80er Jahren, als die Sowjets als Besatzer Plattenbauten errichten ließen.

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Die Wohnblocks im Zentrum der Stadt gelten bereits als Luxus
„Landmafia“ vertreibt Bewohner
Die Kosten für den Bau neuer Häuser sind hoch - und gebaut wird daher für Reiche: Laut dem Integrated Regional Information Network (IRIN) der Vereinten Nationen würden rund 70 Prozent der neuen Hochhäuser von einer „Landmafia“ rechtswidrig errichtet. Die bisher auf den Grundstücken lebende Bevölkerung werde zumeist vertrieben. Die Bestechungsgelder lassen die Behörden dabei wegsehen. Auch ganze Villenviertel haben sie entstehen lassen.

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Die Villenviertel sind von hohen Mauern umgeben und schwer bewacht
Parallelwelt für Reiche
Für die reiche Oberschicht wurden auch erste Einkaufszentren und Luxushotels gebaut. Doch die müssen unter ständiger Angst vor Anschlägen durch Islamisten strengstens bewacht werden. Auch die ausländischen Organisationen leben in einer Art Parallelwelt. Für das Diplomatenviertel, in dem auch der Präsidentenpalast liegt, macht schon die Bezeichnung „Green Zone“ die Runde - in Anlehnung an die abgeriegelte Grüne Zone im umkämpften Bagdad.

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Die 2010 eröffnete City Star Hall bietet den reichen Afghanen vier Säle: Monatlich finden hier rund 70 Hochzeitsfeiern statt - mit jeweils 800 bis 1.000 Gästen
Kabul „prototypisch“ für „Nachkriegssituationen“
Kabul sei prototypisch für „die Stadtentwicklung in Nachkriegssituationen“, schrieben Wilfried Hackenbroich und Kai Vöckler in dem 2010 erschienenen Band „UN Urbanismus“: Landmigranten und zurückkehrende Flüchtlinge würden massenhaft in eine weitgehend zerstörte Stadt kommen. Daraus resultiere ein „ungeregeltes flächengreifendes Baugeschehen, ein Hochschnellen der Bodenwerte und das Entstehen einer Baumafia.“
Den Armen gegenüber stehe eine nationale, zumeist im Ausland ausgebildete Elite mit ihren Sicherheitskräften sowie die internationalen Bewohner der Stadt, derzeit vor allem Mitarbeiter von internationalen Organisationen.

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Es gibt keinerlei Infrastruktur in den Armensiedlungen
Ohne funktionsfähige Stadtverwaltung gebe es daher auch keine Planung, die die Stadtentwicklung koordiniert, heißt es weiter. Einzig die Rekonstruktion des historischen Stadtkerns und die Wünsche der reichen Oberschicht werden berücksichtigt. Zwar plante die Regierung von Präsident Hamid Karzai eine riesige Satellitenstadt für eine Million Menschen, wie dieses Projekt umgesetzt werden soll, ist aber völlig unklar.

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Ein völlig zerstörter Lkw als Spielplatzersatz
Jahrzehntelanger Kriegszustand
Jahrzehnte war Afghanistan von Kriegen und Bürgerkriegen gezeichnet: Im April 1978 brachte ein prosowjetischer Staatsstreich die Kommunisten an die Macht. 1979 begannen die Sowjets mit der Invasion Afghanistans, um die von aufständischen Rebellen bedrohte Regierung in Kabul zu schützen. Sowohl die USA auch die UdSSR investierten Milliarden Dollar zur militärischen Unterstützung der Mudschaheddin beziehungsweise der Moskau-treuen Regierung.
1989 zogen die Sowjettruppen ab. Die kommunistische Regierung von Präsident Mohammed Nadschibullah hielt sich aber noch drei Jahre lang an der Macht, bevor die muslimischen Rebellen Kabul erobern konnten. Am 16. April 1992 wurde er gestürzt und umgebracht. Nach ihrer Machtergreifung begannen die - vor allem mit US-Hilfe - gut bewaffneten, fanatischen Mudschaheddin-Fraktionen sich gegenseitig zu bekämpfen. Die Feindeslinien zogen sich mitten durch die Hauptstadt. Einkaufswege für die zivile Bevölkerung wurden zur Todesfalle. Durch die Kämpfe wurden 80 Prozent der Bauwerke Kabuls zerstört und 30.000 Zivilisten getötet.

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Trümmer des Krieges sind in der Stadt weiterhin allgegenwärtig. Nur provisorisch werden Ruinen wieder nutzbar gemacht, wie hier ein kleines Geschäft
Ungewisse Zukunft
Erst als 1996 die Taliban die Oberhand gewannen, wurden die Kampfhandlungen weitestgehend eingestellt. Dafür litten die Bewohner unter den Repressalien des fundamentalistisch-konservativen Regimes. Kabul war die am meisten verminte Stadt der Welt. In der Hauptstadt mit mehr als einer Million Einwohnern blieben nur die Ärmsten zurück, die es sich nicht leisten konnten, vor dem Bürgerkrieg oder der fünfjährigen Herrschaft der Taliban zu fliehen.
Und auf all jene, die in den vergangenen Jahren wieder ins Land zurückkehrten, wartet eine unsichere Zukunft. Denn niemand kann genau abschätzen, was passiert, wenn bis Ende 2014 die derzeit 112.000 Kampfsoldaten der von der NATO geführten Afghanistan-Schutztruppe ISAF aus dem Land am Hindukusch abziehen.
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