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Smartphone wird zum „Suchtmittel“

Jeder kennt es aus dem eigenen Umfeld: Beim leisesten Anflug von Langeweile wird sofort das Smartphone aus der Tasche gezogen und E-Mails gecheckt, eine Statusmeldung auf Facebook eingetragen („mir ist gerade fad“) oder eine App aktiviert. Im Zeitalter der ständigen Informationsflut wird das Nichtstun offenbar immer unerträglicher. Doch das Fehlen von Langeweile birgt auch Gefahren.

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Langeweile ist ein „als lästig empfundenes Gefühl des Nicht-ausgefüllt-Seins, der Eintönigkeit und Ödheit, das aus Mangel an Abwechslung, Anregung oder Unterhaltung entsteht“, heißt es im Duden. Dass Langeweile als unangenehm erlebt wird, ist also nichts Neues. Der Mensch war stets bemüht, diesen Zustand so rasch wie möglich zu beenden. Dank technologischer Hilfsmittel geht das immer schneller, und mittlerweile wird jede Sekunde freie Zeit „totgeschlagen“.

Kein Leben ohne mobiles Internet

Tablet, E-Book und Smartphone - ein leichter Druck auf den Touchscreen, und schon läuft das Berieselungsprogramm. Über 90 Prozent der Zwölf- bis 19-Jährigen sind heute mobil erreichbar, die meisten nutzen laut dem jüngsten „Jugend Trend Monitor 2012“ Smartphones. Bereits 70,9 Prozent sind über das Handy regelmäßig in Sozialen Netzwerken wie Facebook. Im Schnitt sind die Jugendlichen bereits 73,5 Minuten pro Tag über Handy oder Tablet-PC im Internet.

Langeweile erzeugt Angst

Der Griff zum Handy wird zu einem inneren Drang, dem man kaum widerstehen kann. „Smartphones sind wie Zigaretten oder das Kauen von Fingernägeln“, schreibt der Anthropologe Christopher Lee in seinem Essay für das Evolutionary Studies Consortium. Mit Spielen, Musik, Videos und SMS stimulierten Smartphones das menschliche Verlangen, sich zu beschäftigen, wenn Langeweile aufkommt, erklärt Lynn gegenüber dem US-Sender CNN. Und dieses Verlangen werde durch die heutige Gesellschaft immer größer, glaubt Lynn.

„Wenn man einmal an die Dauerberieselung gewöhnt ist und sie fällt weg, dann weiß man nicht mehr, was man mit sich selbst anfangen soll“, so Lynn. „Ist man an Langeweile nicht gewöhnt, dann löst sie Angst aus. ‚O mein Gott, ich sollte eigentlich etwas tun.‘ Und sofort wird nach dem Smartphone gegriffen“, so der Experte.

Dauerberieselung tötet die Kreativität

Doch wenn jede Sekunde des Tages mit mehr oder weniger sinnvollen Beschäftigungen vollgestopft wird, kann das auf Kosten der Kreativität gehen, warnen Forscher des Social Issues Research Center (SIRC) in Oxford. „Bei der ständigen Informationsflut bleibt wenig Zeit für persönliche Gedanken, Reflexionen oder einfach nur dafür, seinen Tagträumen nachzuhängen“, schreiben die Wissenschaftler. Tatsächlich wüssten viele Menschen immer weniger mit sich selbst anzufangen.

Einfach einmal den „Wunderknopf“ betätigen

Die ständige Erreichbarkeit überfordere immer mehr Menschen, sagt Helmut Friessner vom Verein zur Verzögerung der Zeit gegenüber ORF.at. „Viele sind nicht mehr fähig, mit der Leere umzugehen.“ Es gebe zwar noch Menschen, die durch Meditieren oder Wanderungen bewusst die Ruhe suchen, doch das sei eine Minderheit. Friessner rät dazu, einfach einmal den „Wunderknopf“ am Handy zu betätigen und es auszuschalten - und dann zu schauen, was passiert.

In dem heutigen Gesellschaftssystem regiere die Schnelligkeit und damit auch die Oberflächlichkeit, „für Ruhe und Erholung bleibt oft kein Platz“, so Friessner. Sich bewusst Ruhe zu verschaffen sei jedoch Voraussetzung für das Nachdenken. Sein Verein beschäftige sich seit 20 Jahren mit dem bewussten Umgang mit der Zeit und nehme seit einiger Zeit ein wachsendes Interesse an dem Thema wahr. „Das eigene Denken findet nicht mehr statt, man ist nicht mehr Herrscher seiner selbst.“

„Googeln lernt man nicht durch Googeln“

Auch der deutsche Psychiater Manfred Spitzer widmete sich in seinem Bestseller „Digitale Demenz“ dieser Problematik. „Digitale Medien machen süchtig. Sie schaden dem Körper und vor allem dem Geist“, schreibt Spitzer. „Wenn sich Menschen beim Autofahren nur noch auf das Navigationsgerät verlassen, entwickeln sie gar nicht die Fähigkeit, sich zu orientieren.“ Das Gleiche gelte für Kinder, die in der Schule mit einem elektronischen Griffel an einem Tablet arbeiteten, statt richtig schreiben zu lernen. „Das Gehirn bleibt dabei hinter seinen Möglichkeiten zurück.“

In Kindergärten und Volksschulen würde Spitzer digitale Medien am liebsten ganz verbieten. „Es handelt sich daher in Wahrheit um nichts weiter als eine Art Anfixen.“ Auch das Argument, dass Kinder, die schon früh den Umgang mit den neuen Medien lernen, es später leichter hätten, lässt der Gehirnforscher nicht gelten. „Googeln lernt man nicht durch Googeln. Nur durch solides Grundwissen können Sie in einer Suchmaschine die Spreu vom Weizen trennen“, sagte er im Interview mit der Tageszeitung „Die Presse“.

Handys als Identitätsbildner

Doch nicht von allen Seiten wird die ausgedehnte Handynutzung verteufelt. Gerade in der Psychologie werden durchaus auch positive Effekte festgestellt. „In einer mobil und sich fremd gewordenen Welt fördert es die Beziehungen untereinander“, schreibt der Psychiater und ehemalige Direktor des Zentrums für Psychiatrie im deutschen Ravensburg, Volker Faust, zur Psychologie der „Handymanie“. So konnte beobachtet werden, dass Gespräche am Handy als angenehmer empfunden werden als am herkömmlichen Telefon.

Auch dokumentiere das Mobiltelefon eine zwischenmenschliche Beziehung besser als jedes andere Medium. „Handygespräche schaffen offenbar viel mehr eine ‚innere Sphäre‘ mit dem jeweiligen Telefonpartner als jede andere Kommunikation“, schreibt Faust. Kurz ausgedrückt: Mit Menschen, auf die es wirklich ankommt, wird am Handy auch mehr gesprochen. Dadurch förderten Mobiltelefone auch die persönliche Identität stärker als andere moderne Medien.

Therapie per Telefon

Das machen sich mittlerweile auch Therapeuten zunutze. Eine Studie der Universität Cambridge zeigte, dass Sitzungen, die nur am Telefon durchgeführt wurden, gleich erfolgreich waren wie bei einer Vieraugenintervention. Der Untersuchung zufolge reduzierte sich dadurch die Therapiezeit um 40 Prozent. Bleibt also genug Zeit für neue Handyspiele - oder einfach nur dafür, einmal ins Narrenkastl zu schauen.

Gabi Greiner, ORF.at

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