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Der Alte, der Junge und der Kleine

„Der alte Stanislaus war der Großvater. Der junge Stanislaus war der Vater. Und der kleine Stanislaus war der Bub.“ So beginnt die erste von sechs Geschichten über die drei Stanisläuse, mit denen sich die österreichische Autorin Vera Ferra-Mikura zu einer Ikone der Kinderbuchliteratur geschrieben hat.

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Das Universum der Stanisläuse ist immer dasselbe: Die drei wohnen mit der Großmutter, mit der Mutter und mit Veronika in einem „netten kleinen Haus“ in einem bunten Garten. Im Keller der Drei-Generationen-WG lebt eine Mäusegroßfamilie, um die sich die drei Stanisläuse hingebungsvoll kümmern. Sie füttern sie fleißig mit Wursthäuten, schützen sie vor bösen Mäusefängern, und wenn sie krank sind, bekommen sie Wollsocken - auch wenn das bedeutet, dass die drei Männer selbst stricken müssen. Und Hausarbeit ist den faulen Stanisläusen nämlich ansonsten ziemlich fremd.

Überhaupt: Die Geschlechterrollen sind für heutige Verhältnisse recht anachronistisch. Während Frauen kochen, putzen und aufräumen, rühren die Männer nur dann einen Finger, wenn es ihnen aufgetragen wird - und selbst dann kommt meistens irgendetwas dazwischen.

Illustration aus "Stanisläuse"

Jungbrunnen Verlag 1963

„In die Suppe des alten Stanislaus fiel ein kleiner dürrer Ast. In die Suppe des jungen Stanislaus fiel ein grünes Blatt. In die Suppe des kleinen Stanislaus fiel eine reife Marille.“

Die weggespitzten Buntstifte

Denn die Stanisläuse sind begnadete Tagträumer, die sich in jedem der sechs Bände auf Spaziergänge begeben, die zu phantastischen Abenteuern werden. So stellen sie sich vor, wie ein Papierschiffchen zu einem richtigen Dampfer wird, wie Tiere, die sie an die Wand zeichnen, zum Leben erwachen und mit ihnen durch die Welt ziehen.

Für Kinder sind die Bücher immer wieder eine große Ansammlung an skurrilen Vorstellungen - etwa wenn Veronika vor lauter Vorfreude auf den ersten Schultag ihre neuen Buntstifte so lange spitzt, bis sie so winzig sind, „dass man sie nicht mehr sehen kann“ („Die Mäuse der drei Stanisläuse“).

Illustration aus "Stanisläuse"

Jungbrunnen Verlag 1963

„Es waren drei Wasserfälle. Ein großer, ein mittelgroßer und ein kleiner.“

Ein Leitfaden zu Gedankenreisen

So sind die Stanislaus-Geschichten nichts anderes als ein Bilderbuch-Leitfaden für Kinder zu ausschweifenden Gedankenreisen. Wenn sich der kleine Stanislaus etwas ausdenkt, sehen das Vater und Großvater sofort auch, indem sie der Fantasie der anderen folgen, träumen sie sich gemeinsam weg.

Zeichnungen von den Stanisläusen und Veronika werden lebendig - auch wenn sie nicht so lebensecht geraten, etwa ein Hund, den Mutter und Großmutter für ein schwarzes Schaf halten.

Eine Welt in dreifacher Ausführung

Die Stanislaus-Welt wird von der dreifachen Wiederholung bestimmt: Von den Protagonisten und ihren weiblichen Familienmitgliedern (die alle drei Veronika heißen), über so gut wie alle Nebenfiguren (drei Maler, drei Mäusediebe, drei Bären) bis zu den Handlungen („Der alte Stanislaus strich die Gartentür grün. Der junge Stanislaus strich den Briefkasten rot. Der kleine Stanislaus strich den Schemel blau.“)

Aber auch die Größenverhältnisse hält Ferra-Mikura konsequent durch: Wenn der alte Stanislaus ein großes Loch in den Schnee schaufelt, schaufelt der junge ein mittelgroßes und der kleine ein kleines („Besuch bei den drei Stanisläusen“), wenn sie zu den Wasserfällen gehen, gibt es drei in unterschiedlichen Größen.

Von pessimistischer Lyrik zum Kinderbuch

Ferra-Mikura veröffentlichte vor ihrer Kinderbuchkarriere Gedichtbände mit pessimistischer Lyrik. Die 1923 geborene Tochter eines Vogelhändlers arbeitete als Stenotypistin, Redaktionsassistentin und Lektorin, bevor sie sich 1948 als Schriftstellerin etablierte.

Ihre frühen Märchenbücher wie „Zaubermeister Opequeh“ und der „Der seltsame Herr Sauerampfer“ waren noch voll und ganz dem damaligen Zeitgeist entsprechend vorrangig pädagogischen Gehalts. Erst in den frühen 1960er Jahren entwickelte sie ihren von magischem Realismus geprägten Stil, mit dem vor allem die Stanisläuse zu einem riesigen Erfolg wurden.

Buchhinweis

Die sechs „Stanislaus“-Bände (je 48 Seiten, 13,90 Euro) sind im Jungbrunnen Verlag erschienen.

Die Geschichten dürfen zwischendurch „durchaus etwas traurig oder bedrohlich sein“, erklärte Ferra-Mikura, die 1997 in Wien verstarb. Doch die Lösung des Problems, Trost und Hoffnung müssten dann alles wieder ins Gleichgewicht bringen. „Ein unklarer oder negativer Schluss hinterlässt Mutlosigkeit. Nicht einmal der erwachsene Mensch, der stärker ist als das Kind, kommt ohne Illusionen aus.“

Sophia Felbermair, ORF.at

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