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Wo ist der Stoppknopf?

In Europa und den USA ist seit Jahren ein Wandel zu beobachten: Die Ausbildungszeiten werden länger, und damit kommt die Karriere meist erst in Schwung, wenn der 30er schon überschritten ist. Damit bleibt bis zum 40er immer weniger Zeit, Partnerschaft, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen. In der „Rushhour des Lebens“ stehen die Zeichen auf Vollgas - und der Stoppknopf ist schwer zu finden.

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Die heutigen Erwachsenen bereiten Soziologen und Politikern Kopfzerbrechen. Denn „von ihnen werden Höchstleistungen erwartet, und zwar pro Kopf, die in dieser Weise weder von den Eltern noch von den Großeltern erbracht wurden“, schreibt der Soziologe Hans Bertram in seinem Artikel „Keine Zeit für Liebe – oder: Die Rushhour des Lebens als Überforderung der nachwachsenden Generation?“

Die Zeit wird knapp

Auch wenn Menschen zwischen 20 und 30 Jahren wegen der längeren Ausbildungszeiten und dem späteren Berufseinstieg deutlich mehr Freiheiten haben, wie Bertram gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“) sagt, würden die großen Entscheidungen nur nach hinten verschoben - und das räche sich unweigerlich: So schön Auslandssemester und Partys auch sein mögen, ab 30 wird die Zeit knapp. Dann müssen innerhalb weniger Jahre der richtige Job, der richtige Partner und das angestrebte Lebensumfeld gefunden werden. Und Kinder sollten sich auch noch ausgehen - und das am besten noch vor dem 40. Lebensjahr.

„Zwischen 30 und 40 musst du brennen“

„Zwischen 30 und 40 musst du brennen“, das wusste schon der Börsenhändler Lüdemann in Kristof Magnussons Roman „Das war ich nicht“. Doch während die Romanfigur vor allem das schnelle Geld vor Augen hatte, muss sich die „Generation Rushhour" noch mit weit mehr auseinandersetzen. In dieser Phase würden „berufliche Konsolidierung, Beziehungsintensität, Kindergroßziehen und die Pflege alter Eltern immer wieder problematisch aufeinanderstoßen“, heißt es bereits im Deutschen Familienbericht von 2006.

Regisseur Florian Opitz

Polyfilm

Filmemacher Florian Opitz sucht in „Speed“ Alternativen zur allgegenwärtigen Rastlosigkeit

Die „Suche nach der verlorenen Zeit“

„Zeit beschränkt sich nur noch auf ein Gefühl - sie fehlt“, bringt es der deutsche Dokumentarfilmer Florian Opitz in seinem Film „Speed - Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, der diese Woche in den heimischen Kinos anläuft, auf den Punkt. Opitz, Jahrgang 1973, könnte als Prototyp für die „Rushhour-Generation“ herhalten: Sein Sohn ist gerade auf die Welt gekommen, als sein Vater schwer erkrankt und wenig später stirbt. Gleichzeitig läuft die Karriere, über das Handy ist er telefonisch und per E-Mail immer erreichbar - und trotzdem hat er ständig das Gefühl, zu spät dran zu sein.

Mit Kamera bewaffnet begibt er sich auf eine kurzweilige Suche nach dem kostbaren Gut Zeit. Nach einem wenig erfolgversprechenden Zeitmanagementseminar begibt er sich tiefer hinein in die Materie und trifft im Londoner Bankenzentrum Broker, die in Mikrosekunden ihre Geschäfte abwickeln, und eine Unternehmensberaterin, die auf dem kurzen Weg zwischen Flughafen und ihrem nächsten Termin über ihren Drang zur Weltverbesserung philosophiert.

Verordnetes Glück und teure Entschleunigung

Von der hektischen Wirtschaftswelt, wo Zeit vor allem Geld ist, führt der Weg einmal rund um die Welt. In Santiago de Chile trifft Opitz den Gründer der Modelabel The North Face und Esprit, Douglas Tompkins. Der 69-Jährige errichtete in Patagonien sein eigenes „Entschleunigungsparadies“, wo er heute unter anderem 1.000-jährige Bäume züchtet. Im Königreich Bhutan geht Opitz der Frage nach, wie man per Verfassung garantiertes Glück messen kann. Und in der Schweiz wird mit einer sympathischen Bergbauernfamilie im Einklang mit der Natur Käse produziert.

Siedlung in den Bergen

Polyfilm

In den Schweizer Alpen findet Opitz, was er sucht: die Langsamkeit

Doch je mehr Opitz durch die Welt hetzt, desto mehr stellt sich dem Zuseher die Frage, wohin das Ganze führen soll. Neben den Ratschlägen von Zeitforscher Karlheinz Geißler („Wir haben nicht zu wenig Zeit, wir haben nur zu viel zu tun“) und den interessanten Ansichten des Soziologen Hartmut Rosa („Wenn es die Möglichkeit gibt, uns mit der Fusion von Technik und Gentechnik zu verbessern, dann werden wir das tun“) bleibt wenig Zeit für eine ernsthafte Auseinandersetzung.

Frauen in der Zwickmühle

Dabei sind die Folgen der Überforderung und Mehrfachbelastungen in vielen westlichen Ländern nicht mehr zu übersehen. Allein in Österreich leidet jeder Dritte unter Schlafstörungen, eine Million Menschen gelten als Burn-out-gefährdet. Und der Trend zeigt nach oben. Besonders unter Druck geraten dabei Frauen; einerseits haben sie dank guter Ausbildung so gute Jobchancen wie noch nie, andererseits rufen Politik und Gesellschaft nach mehr Kindern. Die Entscheidung für Kinder wird verschoben: Bekamen Frauen früher das erstes Kind noch im Schnitt mit 24 Jahren, liegt das Alter bei Erstgebärenden heute bei 28 bis 32 Jahren - also schon in der Rushhour.

Herausforderung für die Zukunft

Auch bei früheren Generationen habe es Lebensphasen mit Doppelbelastungen gegeben, sagt der Psychologe Harald Lothaller, der sich in seiner Dissertation mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Doch die Konzentration auf die Jahre zwischen 30 und 40 sei in den letzten zehn Jahren stark gestiegen „und nimmt weiter zu“. Allen, die gerade in dieser Lebensphase stecken, rät Lothaller, sich ein gutes Zeitmanagement zuzulegen und sich auch Zeit für sich selbst „und vor allem auch für die Partnerschaft zu nehmen“.

„Wichtig ist, dass die Arbeit gerecht zwischen den Partnern aufgeteilt wird“, so Lothaller, das würde die Zufriedenheit erhöhen. Zur Entschärfung würden auch mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten und höherqualifizierte Teilzeitarbeit beitragen. „Hier fehlt es vor allem an Role-Models“, so Lothaller, die zeigen würden, „dass es auch anders geht.“

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