Zwei Kinder sind Hauptzeuginnen
War es der Geheimdienst? Oder doch ein Verrückter? War es ein Familiendrama? Oder das blutige Ende eines Erbschaftsstreites? Einige Tage nach dem gewaltsamen Tod einer britischen Familie in den französischen Alpen tappen die Ermittler bei der Aufklärung des brutalen Verbrechens noch ziemlich im Dunkeln.
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Schon tauchen die ersten bohrenden Fragen auf: „Wird der Mörder der Eltern von insgesamt fünf Kindern niemals gefunden werden?“ Es gibt wenige Verbrechen, bei denen es so viele Spuren, aber so wenig Klarheit gibt. Gegenwärtig versucht die Polizei, über die Familie der Opfer Linie in die Ermittlungen zu bringen. Die Spurensicherung der britischen Polizei nahm das millionschwere Fachwerkhaus der Familie im idyllischen und von betuchter Klientel bewohnten Örtchen Claygate am Wochenende haarklein auseinander - und mit ihm das Leben der Familie.
Fahndung nach Allradfahrzeug
„Wir wollen so viel wie möglich über die Familie herausfinden“, sagte Eric Millaud von der französischen Staatsanwaltschaft. E-Mails wurden gesichtet, Kontobewegungen studiert, Rechnungen bewertet: Die Polizei versucht, über den Alltag der Opfer ein Motiv herauszuarbeiten. Möglicherweise führt der Beruf des Mannes zum Ziel. Er war als freiberuflicher Ingenieur für Unternehmen der Luft- und Raumfahrtbranche tätig. Hatte er vielleicht zu viel gewusst?
Der oder die Täter gingen jedenfalls genauso brutal wie offensichtlich professionell vor. Jedem der Opfer wurde mindestens zweimal in den Kopf geschossen, wie die Staatsanwaltschaft nach der Obduktion erklärte - das typische Vorgehen von Auftragskillern. Die „Sunday Times“ schrieb am Sonntag unter Berufung auf französische Polizeikreise, die Ermittler gingen anhand von Schmauchspuren und ballistischen Untersuchungen von wenigstens zwei Tätern aus. Offiziell fahndet die Polizei nach einem grünen Allradfahrzeug und einem Motorradfahrer. Beide wurden von Zeugen in der Nähe des Tatortes gesehen.
Wilde Spekulationen im Boulevard
Die getötete Familie al-Hilli, seit den 1970er Jahren in Großbritannien, führte in Claygate, etwa 25 Kilometer südwestlich von London gelegen, ein zumindest nach außen hin beschauliches Leben. Der getötete Vater Saad (50) war bekannt bei seinen Nachbarn. „Ein freundlicher Mann“, wie alle unisono sagen. Er half, wenn etwas am Haus zu tun war, und war als Tüftler bei kniffligen Fällen bekannt. Seine Familie ging ihm über alles. Einige aus dem Ort erinnerten sich, wie er immer seine Töchter in den Arm nahm, wenn er von der Arbeit nach Hause kam.
Wie immer wenn die Polizei nichts Genaues weiß, gibt es viele Theorien - auch in Claygate. Britische Boulevardzeitungen tischen seit Tagen eine wilde Story nach der anderen auf. So soll Saad al-Hilli einmal in den Irak-Krieg verstrickt sein, einmal auf der Liste von Geheimdiensten stehen, als Ingenieur für geheime Rüstungsprojekte tätig sein oder sich mit Größen aus dem Regime von Ex-Diktatur Saddam Hussein überworfen haben. Das britische „People“-Magazin brachte sogar die These auf, al-Hilli sei an Forschungen in einem streng geheimen britischen Nuklearlabor beteiligt gewesen.
Nichts davon hat sich bisher als stichhaltig herausgestellt. So meldete sich am Freitag etwa der Bruder des Toten von selbst bei der Polizei und beteuerte, es habe in der Familie keinen Erbschaftsstreit gegeben. Zuvor hatten Medien spekuliert, die beiden Brüder hätten um das Erbe von Immobilien etwa in Spanien und im Irak gestritten.
Kinder unter Polizeischutz
Dabei rücken die abenteuerlichen Theorien fast die Brutalität des Verbrechens in idyllischer Umgebung der französischen Alpen in den Hintergrund. Mindestens drei Schüsse haben der oder die Täter auf jedes der Opfer abgefeuert, zwei davon in den Kopf. Das Ehepaar al-Hilli, ein 45 Jahre alter Franzose - Vater dreier Kinder - sowie die Mutter der Ehefrau fanden den Tod. Zwei Mädchen überlebten - das ältere mit schweren Schussverletzungen und mehreren Schädelbrüchen.
Deren jüngere Schwester wurde am Sonntag von zwei Mitgliedern der Familie und einer britischen Sozialarbeiterin nach Hause geholt. Beide Kinder stehen unter Polizeischutz. Ihre Rolle bei den Ermittlungen ist tragend: Nicht nur, dass die Vierjährige ihre toten Eltern identifizieren musste - die Mädchen sind auch die Einzigen, die den Täter gesehen haben könnten.
Michael Donhauser, dpa