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Umbruch im Sexualverständnis

Der als „Dr. Sommer“ bekannte deutsche Sexualaufklärer Martin Goldstein ist tot. Der Psychotherapeut, Autor und Sexualaufklärer starb in der Nacht zum Freitag im Alter von 85 Jahren in einem Düsseldorfer Hospiz, wie seine Familie der Nachrichtenagentur dpa mitteilte. 15 Jahre lang beriet Goldstein in Deutschlands größter Jugendzeitschrift „Bravo“ die junge Leserschaft in Fragen zu Liebe, Sex und Zärtlichkeit.

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Goldstein starb den Angaben zufolge nach langer schwerer Krankheit im Beisein seiner drei Kinder und seiner Lebensgefährtin.

Wertewandel Ende der 60er

Mitte der 60er Jahre hatte „Bravo“ das Thema Liebe und Sex erstmals aufgegriffen - allerdings mit Ratschlägen, die die Sexualität der Teenager eher unterdrückten, als sie zu befreien. Während anfangs noch gegen „Perversionen“ wie Homosexualität und „moralisch Verwerfliches“ wie Sex vor der Ehe gewettert und das Klischee der klassischen Rollenverteilung bedient wurde, veröffentlichte die Zeitschrift 1969 erstmals eine Rubrik, die sich ausschließlich mit dem Thema Sex auseinandersetzte. Unter dem Titel „Was Dich bewegt“ beantworteten Sozialarbeiter, Psychologen und Pädagogen die Fragen jugendlicher Leserinnen und Leser in der Mitte des Heftes. Die Rubrik entwickelte sich auf Anhieb zur meistgelesenen im „Bravo“.

"Dr. Sommer"-Seite in einem Bravo-Magazin

APA/dpa/Tobias Hase

Goldstein schrieb unter den Pseudonymen Dr. Jochen Sommer und Dr. Alexander Korff

Texte auf den Index gesetzt

Der damalige „Bravo“-Chefredakteur hatte Goldstein kontaktiert, nachdem er dessen Aufklärungsbuch „Anders als bei Schmetterlingen“ gelesen hatte. Diesen Autor, der so unverklemmt über Sexualität schrieb, wollte er für sein Magazin. Goldstein hatte nichts dagegen. „Ich wollte Jugendliche direkt erreichen“, sagte er vor einigen Jahren und erzählte, wie bald Tausende Briefe eingingen und ein Team hermusste, um sie nach seinen Vorgaben zu beantworten.

Drei Jahre dauerte es, bis die deutsche Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften auf das Blatt aufmerksam wurde. Prompt wurden 1972 einige Textpassagen als „jugendgefährdend“ auf den Index gesetzt - mit der Begründung, einige Ausgaben seien „geeignet, Kinder und Jugendliche sozialethisch zu verwirren“. In der Begründung hieß es: „Die Geschlechtsreife allein berechtigt noch nicht zur Inbetriebnahme der Geschlechtsorgane.“

Boom durch „Liebe, Sex und Zärtlichkeit“

Der Beliebtheit des Themas Nummer eins und in der Folge auch des „Bravo“ tat das naturgemäß keinen Abbruch - im Gegenteil: Die Auflage stieg weiter. Schnell wurde dem Thema „Liebe, Sex und Zärtlichkeit“ daher mehr Platz eingeräumt. Die gleichnamige Rubrik, die in den Anfangsjahren bloß trockene Ratschläge von Psychologen und kleine Hilfestellungen für verwirrte Teenager umfasste, mauserte sich dank Ergänzungen durch Lesererfahrungen und freizügige Fotos zum Blickfang des Heftes.

15 Jahre lang, bis 1984, arbeitete Goldstein für „Bravo“, dann rückte anderes in den Vordergrund. „Mit dem Rest der ‚Bravo‘ konnte ich mich oft nicht identifizieren, es war ein ständiger Konflikt“, sagt Goldstein. Aktuell kümmern sich nach Angaben des Bauer-Verlages drei Mitarbeiter im Team um die Fragen der jungen Leute.

Von Nazis verfolgt

Der Mann, der die deutsche Jugend aufklärte, hatte selbst eigentlich keine Jugend: Goldstein verbrachte sein 17. Lebensjahr in einem Zwangsarbeitslager der Nazis und später in einem Versteck nahe seiner Geburtsstadt Bielefeld. Er hatte Angst vor der GESTAPO. Als er 16 war, galt Goldstein in der NS-Sprache der Nürnberger Gesetze als jüdischer Mischling ersten Grades. Als Lehrling wurde er deportiert. Martin Goldstein brauchte 50 Jahre, um über diese Erlebnisse sprechen zu können. Vielleicht war es ihm deshalb später so wichtig, Worte zu finden für Dinge, über die „man nicht spricht“.

Über die Kirche zum Sex

Goldstein studierte später Medizin. Danach wurde er aber nicht Arzt, sondern Leiter einer evangelischen Anlaufstelle für Jugendliche in Düsseldorf. Er schloss eine Ausbildung zum Religionslehrer an. Es war die Kirche, dank derer sich Goldstein zum ersten Mal mit sexueller Aufklärung beschäftigte: Er sollte untersuchen, wie die „Erziehung zu Ehe und Familie“ in evangelischen Zeitschriften und Seminaren behandelt wurde.

Seine Ergebnisse erschütterten ihn: Die Tabus, die seine eigene Pubertät zwischen Gebeten und Begierde zur Qual gemacht hatten, lebten noch immer. Der Jugendbetreuer hatte sein Thema gefunden, und es ließ ihn nicht mehr los. Nach „Anders als bei Schmetterlingen“, das 1967 herausgekommen war, folgte 1970 das „Lexikon der Sexualität“.

Ab 1975 war Goldstein ärztlicher Psychotherapeut in der eigenen Praxis in Düsseldorf. Die letzten 15 Jahre seiner Praxis arbeitete er fast nur noch mit männlichen Klienten. 2000 ging er in den Ruhestand. Goldstein war Mitbegründer des „Männerhauses Hilden“. Sein letztes Buch „Teenagerliebe“ erschien 2009. Goldstein lebte zuletzt mit seiner Lebensgefährtin in einer Wohngemeinschaft in Kaarst bei Düsseldorf.

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