Auf einen Kaffee ins „Alzheimer“
Von einer „Truman Show für Schwerkranke“ - in Anlehnung an die zynische Scheinwelt aus dem gleichnamigen Hollywood-Film - war die Rede, als im niederländischen Hogewey vor zwei Jahren ein neuer Weg in der Betreuung von Demenzkranken beschritten wurde. Nun macht sich niemand mehr über das künstliche 23-Häuser-Dorf für Bewohner mit speziellen Bedürfnissen lustig, im Gegenteil.
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Ein Restaurant, in dem niemand nach der Rechnung fragt
Allein die langen Wartelisten für einen Platz in Hogewey sprechen für sich: Die 152 Bewohnerinnen und Bewohner - die Bezeichnung „Patienten“ verbittet man sich - sind augenscheinlich zufrieden mit ihrem beschaulichen Leben: Sie nehmen am „Dorfleben“ teil, gehen im Supermarkt einkaufen, ins Restaurant essen, ins Cafe plaudern und in den Schönheitssalon - nur dass es eben kein echter Supermarkt, kein echtes Restaurant, kein echtes Cafe und kein echter Schönheitssalon sind, sondern in Wahrheit Pflegestationen.
Kellner und Friseurinnen, die keine sind
Dass das Betreuungspersonal in Hogewey in die Rolle von Supermarktkassiererinnen, Kellnern, Friseurinnen und vielem anderen schlüpft, hat einen doppelten Nutzen: Die Bewohner bleiben in einer ihnen vertrauteren Welt und sind damit weniger verunsichert. Außerdem lässt sie das Weiterleben in eingeübten Verhaltensweisen so lange wie möglich aktiv bleiben - und es ist nie ein Problem, wenn die Kunden vergessen haben, weswegen sie gekommen sind oder wo sie wohnen.
Das Team von Hogewey wusste, was es tat. Bis 2010 war das dortige Pflegeheim eines wie viele andere auch: ein mehrstöckiger Gebäudekomplex, in dem „stationäre Betreuung“ auch genau das meinte - den Kranken war es ebenso wie dem Betreuungspersonal allein durch die Betreuungsstruktur unmöglich, Freiräume zu schaffen. Eine Vielzahl von „Pflegefällen“ im schlimmsten Sinn des Wortes war die logische Folge davon. Die Betreiber von Hogewey entschieden sich zu einem neuen Zugang zu dem Thema.

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Nur dass es keine Autos gibt, fällt auf
Eine Kleinstadt - fast - wie jede andere
Die Idee des Dorfes entstand. Die Wohnhäuser wurden so ausgestaltet, dass sich jeder Bewohner im gewohnten Umfeld wiederfindet. Es gibt sechs verschiedene Haustypen - vom einfachen „ländlichen“ und dem leicht kitschigen „Vorstadt“-Typ über „religiös-konservativ“ und „kulturell“ bis hin zu „urban“, Designermöbel und Musik wie Madness’ „Our House“ inklusive, und in „indonesischem Stil“ für Bewohner der früheren Kolonien - exotisch eingerichtet und zwei Grad wärmer geheizt als alle anderen.

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Detail aus einem „indonesischen“ Haus
Autos gibt es nicht im künstlichen Dorf, damit sich die Bewohner gefahrlos frei bewegen können. Sonst allerdings unterscheidet sich das Leben dort nicht wesentlich von anderen Kleinstädten - reges Vereinsleben, kulturelle Veranstaltungen und Besucher von auswärts: Die Betreiber ermuntern durch Institutionen wie das selbstironisch „Cafe Alzheimer“ getaufte Kaffeehaus bewusst zum Austausch zwischen Kranken und Gesunden.
Kranke „als Personen anerkennen“
Der Gedanke, von einer „gesunden“ Welt weg einen Schritt auf die Demenzkranken zuzugehen, geht zu einem Gutteil auf den US-Sozialpsychologen Tom Kitwood zurück. Er entwickelte in den 80er und 90er Jahren ein neues Modell, das statt einer strikt medizinischen Sicht eine „Demenzpflege“ forderte, bei der das Wohlbefinden der Betreuten im Vordergrund steht - nicht nur, weil es ihnen dann einfach besser geht, sondern auch, weil das Vermeiden von Angstgefühlen und Desorientierung den größten Nutzen für Betreuten und Betreuer hat.
Auch die österreichische Expertin Susanna Markowitsch, die auf langjährige psychotherapeutische und psychosoziale Arbeit mit älteren Menschen zurückblicken kann, betont gegenüber ORF.at, das Wesentlichste beim Umgang mit Demenzkranken bestehe darin, „diese Menschen als Personen anzuerkennen und das Augenmerk nicht auf Defizite, sondern auf vorhandene Ressourcen zu richten“ und diese „wertzuschätzen und zu fördern“.
Nicht wesentlich teurer als herkömmliche Betreuung
Dass die Bewohner von Hogewey Aufgaben übernehmen wollen und können, zeigt allein der dortige Patientenrat. Die sechs Vertreter der „Dorfbevölkerung“ haben in allen wesentlichen Fragen Mitspracherecht - von Personalfragen über Alltägliches bis zur Budgetaufteilung. Das schlägt laut dem britischen „Guardian“ mit 5.000 Euro pro Monat und Bewohner zu Buche, meist getragen von der niederländischen Sozialversicherung, aber auch von Beiträgen der Bewohner.

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Der „Einkauf“ im Supermarkt bleibt als gewohntes Ritual erhalten
In Österreich geht man demgegenüber etwa von 3.600 Euro Kosten pro Monat und stationär betreuten Demenzkranken aus - Tendenz stark steigend. Vor allem aufgrund der Altersstruktur der Bevölkerung wird sich die Zahl von Demenzkranken hierzulande bis 2050 verdoppeln. In Deutschland hat sich die Kleinstadt Alzey bereits zum Bau eines „Stadtquartiers“ nach dem Vorbild von Hogewey als „Leuchtturmprojekt“ entschlossen, und im britischen Bristol sind zwei Seniorenheime seit kurzem durch eine „Geschäftsstraße“ verbunden, die komplett im 50er-Jahre-Design gehalten ist, Originalreklametafeln von damals inklusive.
Was wirklich hilft
Nach Meinung von Markowitsch braucht es aber nicht einmal unbedingt eine heile Kulissenwelt. Zwar brauchten die Betreuten auch eine „Wohnform, die Sicherheit und Geborgenheit vermittelt“, aber „vor allem Beziehungen zu Angehörigen und Pflegepersonal“, die „Menschen mit Demenz in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit zu verstehen versuchen“, sie „in ihrem So- und Anders-Sein wertschätzen und ihnen damit helfen, sich als Person erfahren zu können“.
Lukas Zimmer, ORF.at
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