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„Enorme Gewinne“ auf Kosten Dritter

Die Öffentlichkeit in Europa und den USA hat bisher die Dimensionen des Skandals um manipulierte Zinssätze in der Londoner City nur ansatzweise erfasst. Wie dramatisch die Affäre rund um von weltweit führenden Banken offensichtlich „getürkte“ Zinssätze ist, zeigt aber, dass sogar der wirtschaftsliberale britische „Economist“ den Libor-Skandal zum „verfaulten Herzen der Finanzwelt“ ernannte.

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Andere Analysten sprachen gar bereits vom „größten Finanzbetrug in der Geschichte“, der jene Finanzdeals, die die Finanzkrise auslösten, noch weit in den Schatten stelle. Zuletzt sorgte die Einigung der britischen Barclays Bank mit US-amerikanischen und britischen Aufsichtsbehörden auf eine umgerechnet 360 Mio. Euro hohe Strafe für Aufsehen. Im Zuge der Untersuchungen kamen aber auch zahlreiche Beweismaterialien ans Licht - insbesondere beschuldigte Barclays auch andere Banken, die in die Manipulation des für die Finanzwelt wohl weltweit wichtigsten Zinssatzes involviert sein sollen.

Damit haben die zuständigen Aufsichtsbehörden - deren Rolle in dem mindestens seit dem Jahr 2005 laufenden Betrügereien in der Untersuchung der Causa wohl ein Kapitel für sich sein wird - viel Material gewonnen, um den Skandal weiter auszuleuchten.

Dabei helfen wird auch, dass wohl immer mehr betroffene Banken aus Angst vor riesigen Strafzahlungen und den in weiterer Folge - in den USA bereits in Ausarbeitung - befindlichen Sammelklagen zu „singen“ beginnen dürften. So soll die Deutsche Bank in der Schweiz und bei der EU bereits einen Kronzeugenstatus beantragt haben.

Fieberkurve des Finanzsystems

Generell gilt: Da der Libor den Zinssatz darstellen soll, zu dem Banken einander Geld borgen, gilt er - oder galt er bisher - als Richtwert für den Zustand des Finanzsystems. Ein niedriger Libor, also niedrige Zinsen, bedeutete, dass die Banken keine Bedenken haben, anderen Banken Geld zu leihen und war somit ein Zeichen von Stabilität.

Ein hoher Libor dagegen galt als Gefahrensignal. Zu beachten ist allerdings, dass die in die Libor-Erstellung involvierten Banken nicht tatsächliche Zinssätze melden, sondern lediglich Schätzungen, was die Tür für Betrug stets weit offen ließ.

Der „allmächtige“ Libor

Doch worum geht es in dem Skandal im Kern überhaupt? Der Libor ist der in der Finanzwelt wichtigste Zinssatz, auf dem weltweit viele andere fußen. Vereinfacht gesagt werden in der Regel Zinsen für Wohnungs-, Studenten- und Konsumkredite sowie Sparguthaben, Derivate und andere Finanzprodukte auf Grundlage des Libor plus einem variablen Aufschlag errechnet.

Die Berechnung des Pfund-Libor erfolgt, indem 16 Banken den geschätzten Zinssatz, den sie zum Geldausborgen anderen Banken bezahlen werden müssen, täglich an das Libor-Komitee melden. Dieses lässt die vier höchsten und vier niedrigsten Sätze weg und berechnet in einem festgelegten Verfahren aus den acht restlichen Zinssätzen den Libor. Die logische Konsequenz daraus: In die Manipulation können nicht nur zwei oder drei Banken verwickelt gewesen sein - manche Experten gehen davon aus, dass alle 16 - bzw. für den US-Libor alle 18 - Banken involviert waren.

Zwei Libor-Skandale

Tatsächlich werden unter dem Schlagwort Libor-Skandal zwei verschiedene Betrugsformen subsumiert, in die aber zumindest teilweise dieselben Banken verwickelt waren. Im einen Fall meldeten Barclays und vermutlich andere Banken kurz vor Ausbruch der Finanzkrise bewusst zu niedrige Zinssätze an das Libor-Komitee. Damit sollte verdeckt werden, welch große Schwierigkeiten Banken bereits im Jahr 2007 hatten, Geld aufzunehmen.

Auch wenn das nur Spekulation ist: Ein nicht manipulierter Libor-Wert - er wäre deutlich höher gelegen als der manipulierte Kurs - hätte bereits frühzeitig die Alarmglocken bei den Aufsichtsbehörden auslösen und möglicherweise den Zusammenbruch von Lehman Brothers verhindern können.

Mit fremdem Geld eigene Taschen gefüllt

Die zweite Form des Betrugs startete spätestens 2005 - Insider behaupten, dass die Manipulation sogar über Jahre schon gang und gäbe und ein offenes Geheimnis in der Finanzbranche war. Dabei wurde der Libor von den Banken immer in jene Richtung - egal ob nach oben oder nach unten - hin manipuliert, die ihnen half, den maximalen Gewinn aus ihren Geschäften mit Derivaten zu machen.

Der „Guardian“-Reporter Robert Reich nannte das „Insiderhandel in einem gigantischen Ausmaß“. „Es macht die Banken zu Gewinnern und uns - deren Geld sie für ihre Wetten verwendeten - zu Verlierern und Trotteln.“ Die Gewinne, die Banken auf diese Weise eingestrichen haben, könnten „enorm“ gewesen sein, so der „Economist“. Täglich könnten selbst kleinste Bewegungen des Libor Gewinn oder Verlust in Millionenhöhe ausgemacht haben.

Im Jahr 2007, so der „Economist“, ging es allein für Barclays um einen Gewinn oder Verlust von umgerechnet 32,7 Mio. Euro - täglich. Barclays allein gestand, Hunderte Male falsche Kurse angegeben zu haben. Dass der geschasste Bankchef Bob Diamond das intern damit verteidigt habe, dass man öfter nicht als doch manipuliert habe, veranlasste den „Economist“ zu der ätzenden Bemerkung: Das gleiche einem Ehebrecher, der sich damit verteidige, dass er an den meisten Tagen ohnehin treu gewesen sei.

Schwarze Szenarien für Banken

Gerichtsverfahren wegen Manipulation und Kartellbildung und langfristig vor allem der riesige Vertrauensverlust für den durch die Finanzkrise ohnehin bereits schwer beschädigten Finanzsektor - all diese Gefahren drohen nun. Dazu kommen auch drohende Sammelklagen von Kunden aus der ganzen Welt. Dabei wird sich letztlich im Detail oft gar nicht nachvollziehen lassen, wer durch die Manipulationen wie viel verloren - oder auch gewonnen - hat.

Laut „Economist“ droht den betroffenen Banken ein besonders hohes Risiko, da sie in der Mitte vieler Transaktionen stünden. Jedem Kunden, der wegen Libor-Manipulationen verloren habe, stehe wahrscheinlich ein Gewinner gegenüber. Banken würden aber nur von den Verlieren juristisch verfolgt werden, umgekehrt aber ungerechtfertigte Profite von anderen Kunden nicht zurückfordern können.

Letztlich könnten wieder die Steuerzahler diejenigen sein, auf die die Kosten abgewälzt werden. Denn seit der Finanzkrise gab es trotz zahlloser Versprechen weder in den USA noch in London und der EU wirklich durchgreifende Reformen, um die Macht von Banken einzuschränken (Stichwort: „Too big to fail“) und klassische Bankgeschäfte und hoch riskante Spekulationsgeschäfte strikt zu trennen.

Verdacht lastet auch auf Euribor

In der Euro-Zone sind vor allem private Kreditnehmer und Sparer von dem Libor-Skandal weniger betroffen, da hier der übliche Referenzzinssatz der Euribor ist. Doch auch beim Euribor besteht der Verdacht, dass er manipuliert wurde - die EU-Kommission untersucht seit Monaten wegen möglicher Absprachen zwischen den Banken und drohte im Ernstfall mit drakonischen Maßnahmen.

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