Themenüberblick

Jahrzehntelange Suche

Wissenschaftler am europäischen Kernforschungszentrum CERN haben ein neues Elementarteilchen entdeckt, bei dem es sich nach ihren Angaben um das seit langem fieberhaft gesuchte Higgs-Boson handeln könnte. „Es ist ein vorläufiges, aber ein sehr überzeugendes Ergebnis“, sagte der führende CERN-Wissenschaftler Joe Incandela am Mittwoch in der Forschungseinrichtung bei Genf.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Seit 40 Jahren fahnden Physiker nach dem Higgs-Boson, das auch „Gottesteilchen“ genannt wird. Es spielte nach herrschender Teilchentheorie eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Universums nach dem Urknall. Das nach dem britischen Physiker Peter Higgs benannte Teilchen sorgt demnach dafür, dass alle Objekte eine Masse haben. Der heute 83-jährige Higgs hatte die Existenz des Teilchens 1964 vorhergesagt.

Zwei unabhängig voneinander arbeitende Forscherteams haben demnach ein neues Teilchen „beobachtet“. Doch beide Forschergruppen scheuten vor der Behauptung zurück, dass es sich dabei mit Sicherheit um das Higgs-Teilchen handelt. Dafür seien weitere Forschungen nötig, hieß es - mehr dazu in science.ORF.at.

Britischer Forscher Peter Higgs

Reuters/Denis Balibouse

Higgs selbst war bei der Präsentation anwesend

„Entdeckung des Jahrhunderts“

„Was sich hier anbahnt, ist für mich bisher die Entdeckung des Jahrhunderts“, schwärmte Joachim Mnich, Forschungsdirektor des Deutschen Elektronen-Synchrotrons Desy in Hamburg, der auch am CERN arbeitet. „Am deutlichsten überzeugt mich, dass wir in den zwei unabhängigen Datensätzen aus dem letzten und aus diesem Jahr das gleiche Signal sehen, und das konsistent in beiden Experimenten, Atlas und CMS.“ Beide sind am CERN angesiedelt.

Doch die Physiker bleiben vorsichtig: „Jetzt müssen wir herausfinden, ob es sich bei dem neuen Teilchen tatsächlich um den noch fehlenden Baustein des Standardmodells handelt“, sagte Achim Stahl, Professor an der RWTH Aachen. Er ist deutscher Sprecher des CMS-Experiments am CERN. „Es könnte auch ein Higgs-Teilchen sein, dass nicht ins Standardmodell passt, oder etwas gänzlich Unerwartetes. Alles wären große Entdeckungen, nicht nur für die Teilchenphysik.“

Eine Million Milliarden Kollisionen

Nach Angaben des Instituts für Hochenergiephysik (HEPHY) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien, wurde das Teilchen bei einer Masse von rund 125 Gigaelektronenvolt (GeV) entdeckt, und zwar „mit einer statistischen Signifikanz von fünf Standardabweichungen (5 Sigma)“. Das bedeutet, dass die Chance nur mehr sehr gering ist, dass es sich bei den beobachteten Signalen nur um statistische Schwankungen handelt. Das HEPHY ist an der 41 Länder umfassenden CMS-Kollaboration beteiligt, die einen der beiden großen Detektoren am Teilchenbeschleuniger LHC des CERN betreuen.

Die Wissenschaftler haben die Daten von einer Million Milliarden (zehn hoch 15) Protonen-Protonen-Kollisionen ausgewertet. Bis Ende dieses Jahres erwarten die Wissenschaftler von CMS, den bis jetzt aufgezeichneten Datensatz verdreifachen zu können. Diese zusätzlichen Daten würden es ermöglichen, die Natur dieses beobachteten neuen Teilchens tiefer zu ergründen, heißt es in einer Aussendung des Hephy.

Letzter fehlender Puzzleteil

Für die Wissenschaftler ist es das letzte noch fehlende - aber absolut zentrale - Elementarteilchen, um das Standardmodell der Materie zu begründen. Würde es nicht existieren, stünde das gesamte seit Jahren die Physik beherrschende Theoriemodell infrage. Bei der Suche nach dem Higgs-Teilchen werden seit Monaten am CERN an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz in dem 27 Kilometer langen Ringtunnel des Teilchenbeschleunigers LHC Protonen aufeinandergeschleudert.

CERN stellte versehentlich Video online

Dem europäischen Kernforschungszentrum CERN war vor der weltweit mit Spannung erwarteten Stellungnahme zum Elementarteilchen Higgs-Boson ein Patzer unterlaufen. Versehentlich stellte das Forschungszentrum am Dienstag kurzzeitig ein Video ins Internet, in dem die Beobachtung eines neuen Teilchens - mutmaßlich des „Gottesteilchens“ - bestätigt wird. „Wir haben ein neues Teilchen beobachtet“, sagt CERN-Sprecher Incandela in dem Video, das die US-Zeitschrift „Science News“ zuerst entdeckte.

Entscheidender Faktor für Masse

Mit dem Higgs-Mechanismus wird seit 1964 im Standardmodell der Elementarteilchenphysik erklärt, wie die Teilchen - also die Grundbausteine der Materie - ihre Masse erhalten. Die Forscher gehen davon aus, dass die umherfliegenden Elementarteilchen von einem Higgs-Feld gebremst werden. Dieses universale Higgs-Feld „zieht“ demnach gleichsam an dem Elementarteilchen, das dadurch Masse gewinnt.

Der Theorie zufolge gilt dabei: Das Elementarteilchen hat umso mehr Masse, je stärker es auf das unsichtbare Feld reagiert. Je mehr Masse das Teilchen aber hat, umso leichter kann es das Higgs-Feld seinerseits in Schwingungen versetzen - und jetzt kommt das Higgs-Teilchen ins Spiel: Denn diese Schwingungen äußern sich der Theorie zufolge physikalisch in der Erzeugung von Higgs-Bosonen, die eben wegen ihrer universellen Bedeutung von manchen Physikern „Gottesteilchen“ genannt werden. Mit der Entdeckung des Higgs-Bosons in Genf wäre also die Existenz des Higgs-Feldes nachgewiesen.

Suche nach „Gottesteilchen“ 100 Meter unter Erde

Die Suche nach dem Higgs-Teilchen gehört zu den zentralen wissenschaftlichen Aufgaben des riesigen Teilchenbeschleunigers LHC nahe der französisch-schweizerischen Grenze. Mehr als 100 Meter unter der Erde lassen die Wissenschaftler des CERN in dem 27 Kilometer langen Ringtunnel Protonen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit aufeinanderprallen.

Bei den Zusammenstößen entstehen neue Teilchen, die gleich wieder zerfallen und dabei Spuren hinterlassen. Nach Zerfallsprodukten des Higgs-Bosons wird dabei mit den riesigen LHC-Detekoren ATLAS und CMS gesucht: ATLAS ist mit einer Länge von 46 Metern und 25 Meter Durchmessern der größte Detektor, CMS mit einem Gewicht von 12.500 Tonnen der schwerste Detektor, der je an einem Beschleuniger gebaut wurde.

Links: