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Verdächtiger Zeitpunkt für Vernichtung

Der deutsche Bundesverfassungsschutz ermittelt in den eigenen Reihen wegen der Vernichtung von Rechtsextremismusakten unmittelbar nach Bekanntwerden der Neonazi-Mordserie.

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Gegen den verantwortlichen Referatsleiter laufe ein Disziplinarverfahren, er werde befragt und sei auf einen anderen Posten versetzt worden, hieß es am Donnerstag in Sicherheitskreisen. Der Beamte des Inlandsgeheimdiensts habe am 11. November 2011 die Vernichtung von sieben Akten der „Operation Rennsteig“ angeordnet, die sich gegen den rechtsextremen „Thüringer Heimatschutz“ („THS“) richtete. Das wurde am Donnerstag durch den Vorsitzenden des betreffenden Untersuchungsausschusses im Bundestag, Sebastian Edathy (SPD), bekannt.

Reproduktionen der Ostthüringer Zeitung aus dem Jahr 1998 zeigt Fahndungsbilder von Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos

dapd/Frank Döbert

Die drei Mitglieder der Neonazi-Zelle „Nationalsozialistischer Untergrund“

Dem „THS“ gehörte das Zwickauer Neonazi-Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Tschäpe an, das sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ („NSU“) nannte und für die Mordserie an neun Einwanderern und einer Polizistin verantwortlich gemacht wird. Der Beamte ordnete die Aktenvernichtung exakt an dem Tag an, als die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen in dem Fall an sich zog.

Innenminister Hans-Peter Friedrich erklärte, er habe Verfassungsschutz-Chef Heinz Fromm angewiesen, die „Reißwolf-Affäre“ lückenlos aufzuklären und ihm darüber so rasch wie möglich zu berichten.

Vorwurf der Verschleierungstaktik

Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele attackierte den Verfassungsschutz scharf. „Mir ist es überhaupt nicht nachvollziehbar, wie man nach Auffliegen dieses Trios, sieben Tage später, Akten vernichten kann, die genau diesen ‚Thüringer Heimatschutz‘ und möglicherweise auch die drei betreffen, die hier als Serienmörder dann festgestellt worden sind“, kritisierte er.

Er schließe daraus, dass es bei der Behörde Dateien gebe, die bewusst unvollständig gehalten würden und aus denen unzutreffende Angaben zur Zahl der V-Leute gemacht würden. Kritik kam auch vom Links-Politiker Wolfgang Neskovic, der vor Verschleierungsversuchen warnte. „Die Bagatellisierungsversuche des Bundesamtes für Verfassungsschutz sind wenig überzeugend und bieten breiten Raum für Spekulationen“, sagte er.

Acht V-Leute

Der Verfassungsschutz, der Thüringer Verfassungsschutz und der Militärische Abschirmdienst MAD hatten die „Operation Rennsteig“ 1997 gestartet, um mehr Informationen über den „Thüringer Heimatschutz“ zu gewinnen. Die Nachrichtendienste sprachen nach Angaben aus Sicherheitskreisen 35 Personen aus dem rechtsextremen Milieu an und warben aus diesem Kreis insgesamt acht V-Leute: Sechs versorgten den Bundesverfassungsschutz mit Informationen, zwei den Thüringer Verfassungsschutz. Mundlos und Böhnhardt seien nicht unter den 35 angesprochenen Personen gewesen. Die „Operation Rennsteig“ lief bis 2003.

„Bisher nicht untergekommen“

„Ein solcher Vorgang ist mir bisher nicht untergekommen“, schimpfte ein ranghoher Sicherheitsbeamter. „Eine so kapitale Fehlleistung war eigentlich nicht zu erwarten.“ Ein anderer erklärte, er sei stinksauer über das Verhalten des Beamten, der die Akten vernichtet hatte. Er sei als einer von 90 Mitarbeitern damit befasst gewesen, sämtliche Akten über die Thüringer Rechtsextremismusszene zu sichten, um Bezüge zu der Zwickauer Neonazi-Zelle aufzudecken.

Daraufhin habe er im Aktenbestand alte Unterlagen entdeckt, entschieden, dass diese nicht mehr benötigt würden, und den Auftrag zur Vernichtung erteilt. Dieser sei am 12. November ausgeführt worden. Bezüge zum Zwickauer Trio hätten sich nach seiner Aussage in den Akten nicht gefunden.

Auswertungsakten noch existent?

Der Bundesverfassungsschutz bemüht sich nun nach Angaben aus Sicherheitskreisen, den Inhalt der Unterlagen zu rekonstruieren. Dabei kommt ihm zur Hilfe, dass es sich bei den vernichteten Papieren um Rohmaterial handelte, das direkt aus der Beschaffung stammte. Diese Rohdaten werden analysiert und später in Auswertungsakten abgelegt, die in diesem Fall noch existieren sollten. Die Verfassungsschützer sind sich daher sicher, dass sie die Informationen zumindest zum großen Teil rekonstruieren können.

Warum der Beamte die Akten vernichten ließ, ist nach Aussage aus Sicherheitskreisen unklar. Ein ranghoher Sicherheitsbeamter sagte, er sei sich relativ sicher, dass darin nichts stand, was für den Gesamtkomplex der Zwickauer Zelle Bedeutung habe. „Es erschließt sich nicht, warum ausgerechnet diese Akten vernichtet wurden“, erklärte er. Die Akten gehörten zum Referat des Beamten, in dem er seit über zehn Jahren arbeite. Daher habe er die Unterlagen möglicherweise gekannt. Er sei lange beim Thema Rechtsextremismus in der Beschaffung eingesetzt gewesen. Der Bundesverfassungsschutz prüft nun, ob und was der Mitarbeiter möglicherweise mit der „Operation Rennsteig“ zu tun hatte.

Polizei zu wenig unterstützt?

Die hessische Polizei fühlte sich bei den Ermittlungen zu einem der Neonazi-Morde vom Landesverfassungsschutz nicht ausreichend unterstützt. Das deutete der Leitende Kriminaldirektor beim Polizeipräsidium Nordhessen, Gerald Hoffmann, vor dem NSU-Ausschuss an. Die Ermittler hatten als Beschuldigten einen hessischen Verfassungsschützer im Visier, der 2006 am Tatort in Kassel gewesen war. Anträge auf Einsicht in Unterlagen oder Befragung von V-Leuten wurden abgelehnt. Auf die Frage, ob etwas verwehrt worden sei, was essenziell für die Ermittlungen war, sagte Hoffmann: „Das stimmt.“

Die Ermittler in den Ländern hatten einem rechtsextremistischen Hintergrund der Mordserie jahrelang kaum Beachtung geschenkt. Erst nach dem Selbstmord der mutmaßlichen Täter Böhnhardt und Mundlos Ende 2011 waren die Behörden auf die Terrorzelle gestoßen. Die mutmaßliche Komplizin Zschäpe sitzt in Untersuchungshaft.

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