Zwei links, zwei rechts
Was früher als altmodisch und bieder galt, erlebt derzeit eine Renaissance: Handwerken liegt wieder voll im Trend. Hippe Stadtmenschen treffen sich in Strickcafes, schneidern sich ihre Outfits selber im Nähsalon und verkaufen handgemachten Schmuck und selbst getöpferte Vasen online. Das Selbermachen ist dabei längst mehr als nur ein Hobby: Es wird zur Lebensphilosophie.
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Zur beliebtesten Plattform für den Handel mit Selbstgemachtem entwickelten sich die Onlineportale Etsy und DaWanda, auf denen Kreative ihre Waren einfach und günstig an den Mann bringen können.
Die Plattform der Selbermacher
Im Frühling 2005 startete Etsy in einer Studentenbude in New York. Robert Kalin baute selber Möbel und wollte diese online verkaufen, erkannte aber, dass es keinen geeigneten Marktplatz dafür gab. Mit zwei Programmierern und etwa 30.000 Dollar Startkapital legte man los – derzeit arbeiten rund 300 Menschen für Etsy, der Hauptteil davon in den USA. Im Rahmen seiner Europa-Expansion hat das Unternehmen mittlerweile auch ein Büro in Berlin eröffnet.
2011 betrug Etsys Jahresumsatz 500 Millionen Dollar, derzeit hat Etsy 800.000 aktive Verkäufer und 15 Millionen Mitglieder. Das Einstellen eines Artikels kostet 20 Cent für einen Monat, Etsy erhält weiters 3,5 Prozent Provision beim Verkauf. Der überwiegende Teil der Nutzer seien Frauen, so Europa-Chef Matt Stinchcomb gegenüber ORF.at, wobei der Männeranteil steige.
Verstaubtes Image abgelegt
Auch in Österreich setzt sich der Trend zum Selbermachen durch. In Wien hat etwa mit Madame Kury eine Nähstube nach internationalem Vorbild eröffnet. In Paris, London und Berlin sind solche Lokale seit einiger Zeit gang und gäbe. Das Prinzip ist einfach: Besucher können in dem Geschäft Nähmaschinen samt Beratung in Anspruch nehmen - allein und in Gruppen. Die Workshops werden für Erwachsende und Kinder angeboten.
„Die alten, verstaubten Fesseln sind weg“, so Initiatorin Brigitte Kury über den Retrotrend zum Selbermachen. Es sei eine neue Generation herangewachsen, die Handwerken nicht als Zwang aus der Kindheit kennt, sondern darin einen Weg sieht, Kreativität auszuleben. Die Verkaufsplattformen würden den Kreativen Öffentlichkeit und auch die Möglichkeit geben, sich in einer Community zusammenzufinden.
Onlinestrickkurse und „Guerilla Knitting“
Auf eine große Community kann auch die Österreicherin Elisabeth Wetsch verweisen, die auf dem Onlineportal YouTube unter dem Namen „elizzza“ Strick- und Häkelkurse gibt, und dabei bereits mehr als 25 Millionen Views verbuchen kann. Auf ihrer Website Nadelspiel bietet sie Strick- und Häkelmuster sowie Selbstgemachtes an. Eine Stimme findet die Do-it-yourself-Community mittlerweile im deutschen „Cut-Magazin“, das sich mit verschiedensten Handwerksdisziplinen auseinandersetzt.
Während in New York, London und Paris seit Jahren immer wieder quasi über Nacht Zäune, Denkmäler und ganze Fahrzeuge eingestrickt werden, macht sich „Guerilla Knitting“ seit kurzem auch in österreichischen Städten bemerkbar. Das erste große Projekt stellten die „Strickistinnen“ im März 2011 unter dem Titel „Knit Her Story“ auf die Beine. Anlässlich des 100. Frauentags wurden zahlreiche Objekte entlang der Wiener Ringstraße umstrickt - mehr dazu in oe1.ORF.at
Kommerzieller Erfolg ist harte Arbeit
Für den kommerziellen Erfolg auf Plattformen wie Etsy ist laut Stinchcomb vor allem die eigene Motivation ausschlaggebend: „Am Ende des Tages sind die Leute erfolgreich, die gute Dinge produzieren. Sie bekommen mehr Interesse, stellen häufiger Produkte ein und kommen an die Oberfläche“. Im Prinzip sei der Verkauf auf Etsy mit einem eigenen kleinen Unternehmen zu vergleichen, in das man viel Zeit und Arbeit stecken und sich um Werbung kümmern müsse.
Laut Stinchcomb können motivierte Selbermacher von ihren Werken durchaus leben, es gebe auch Leute, die damit „wirklich viel Geld machen“. Das stehe für die Mehrheit aber nicht im Vordergrund: „Die meisten Leute auf Etsy sehen nicht das Geld als Motivation, sie wollen das Gemachte mit anderen teilen, in der Community.“
„Handgemacht ist eine Lebensweise“
Auf die Frage nach der Zukunft von Etsy und den Selbermachern gibt sich Stinchcomb philosophisch: „Handgemacht ist für uns nicht einfach eine Produktionsweise, sondern eine Art zu leben.“ Er sieht durch den Trend zum Selbermachen die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Umbruchs: „Mikroökonomien und speziell lokale Mikroökonomien sind viel mehr als nachhaltiges Kapital in der Zukunft. Uns interessiert, wie Individuen die Art und Weise verändern können, wie Welthandel funktioniert. Anstatt eine Handvoll großer Firmen zu haben, die alles machen, wollen wir eine große Zahl an Individuen und kleinen Firmen, die alles machen. Es geht also keineswegs nur um Objekte, sondern um viel mehr“, so Stinchcomb.
Nayla Haddad, ORF.at
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