„Es hat einen starken Egoismus gegeben“
Europa und Griechenland prägt im Moment vor allem ein Verhältnis des Missverstehens. „Griechenland wird Zeit brauchen“, sagt der griechische Südosteuropa-Experte Adamantios Skordos, der auch erläutert, welche alten Ressentiments in der momentanen Wirtschaftskrise auf griechischer Seite mobilisierbar sind.
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Skordos, in Bludenz in Vorarlberg geboren, ist in Griechenland aufgewachsen und seit kurzem an der Universität Wien tätig. In seiner Arbeit beschäftigt sich der Südosteuropa-Experte nicht zuletzt mit lange anhaltenden gesellschaftlichen Haltungen in der griechischen Gesellschaft.
Sie haben sich als Zeithistoriker mit der Haltung der griechischen Öffentlichkeit und dem kollektiven Unbewussten Griechenlands in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt und konstatieren auch einen „Ethnozentrismus“: hier die „guten Griechen“, da die „bösen Nachbarn“. Woher kommt diese Haltung?

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Der Historiker Adamantios Skordos erklärt die Herkunft des griechischen Gut-böse-Schemas
Skordos: Diese Haltung kann man in der griechischen Öffentlichkeit schon im 19. Jahrhundert feststellen. Neben dem osmanischen Feindbild war das zweite große übergeordnete Feindbild das slawische Feindbild. Der 1830 errichtete neugriechische Staat umfasste nur einen Teil der griechischen Bevölkerung. Damals kristallisierte sich das Konzept der „großen Idee“, der „megali idea“, heraus, unter der Griechenland auch Gebiete im Norden beanspruchte, die von einer slawischen Bevölkerung geprägt waren. Der entstehende bulgarische Staat, der ähnliche Gebiete beanspruchte, bedeutete einen Schub für den griechischen Ethnozentrismus, und aus der Zeit stammt das Konzept vom griechischen Menschen als zumindest in kultureller Hinsicht einem besseren Menschen.
Wenn jetzt in der Krise auch das Verhältnis von Griechenland und Europa zur Debatte steht, wie sehr verdankt sich die „megali idea“ nicht auch Einflüssen von außen, etwa der Griechenland-Sehnsucht im späten 18. Jahrhundert, dem Philhellenismus?
Skordos: Ich glaube nicht, dass die „megali idea“ unmittelbar auf den Philhellenismus zurückgeführt werden kann. Denn die Gebiete, die der Philhellenismus als griechische betrachtete, die waren ja Teil des ersten griechischen Staates. Das Makedonien-Thema war nicht Teil des Konzepts. Makedonien wurde erst später in die griechische historische Meistererzählung mit integriert. Und ein anderes Ziel der „megali idea“ war natürlich aus historischen Gründen Istanbul, das einstige Konstantinopel, als Hauptstadt des byzantinischen Reiches, das ja in der griechischen Meistererzählung als Teil der griechischen Identität gewertet wurde.
Wenn man sich die griechische Geschichte ansieht, dann kommt das Thema Fremdbestimmung und Einfluss von außen ja immer auch im Kontext von Wirtschaftskrisen ins Spiel. Als Griechenland erstmals unabhängig wurde und einen Kredit brauchte, machte man die Akzeptanz eines Wittelsbacher Prinzen als griechischer König zur Vertragsbedingung. Ist die Angst vor einer Fremdbestimmung der Griechen nicht auch schon recht alt?
Skordos: Fremdbestimmung war immer ein Thema, sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert. Die ersten Parteien, die in Griechenland gegründet wurden, hat man als die englische, die französische oder die russische Partei bezeichnet, weil man nach außen hin ausgerichtet war und dachte, unter dem Schutz einer dieser Nationen stehen zu müssen. Die Entscheidung, einen Prinzen aus Bayern als König zu ernennen, kann als eine Kompromisslösung der Schutzmächte verstanden werden, die ja eine wichtige Rolle bei der sogenannten Befreiung der Griechen hatten. Das ist die erste Phase der Fremdbestimmung in Griechenland. Fremdbestimmung als Trauma ist aber sehr eng mit den Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg danach verbunden. Das siegreiche antikommunistische Lager war stark von den USA und den Briten unterstützt, das kommunistische Lager war wieder Moskau-treu. Aus der Perspektive der heutigen Linken in Griechenland war das Regime zwischen 1950 und 1974 mehr oder weniger eine Marionette der US-Amerikaner. Man hat sich sehr lange daran gewöhnt, für viele Übel, die Griechenland passiert sind, Einflüsse der USA verantwortlich zu machen.
Gleichzeitig wurden zwei Premierminister der PASOK, Andreas und Giorgos Papandreou, in den USA ausgebildet.
Skordos: Was Giorgos Papandreou in linken wie rechten Kreisen verübelt wurde. Wenn man von Fremdbestimmung in Griechenland redet, muss man aber auch die Zäsur des Endes des Kalten Krieges berücksichtigen.
Was passiert da zwischen 1989 und den Balkan-Kriegen in der Einstellung der griechischen Politik und Öffentlichkeit?
Skordos: Griechenland hatte extreme Schwierigkeiten, sich neu zu positionieren und in gewisser Weise die Kurve zu bekommen. Während sich die Ereignisse rapide entwickelten, hatte Griechenland Probleme, sich wiederzufinden. Auch im Verhältnis von Griechenland und der EU. Früher war man eine Hochburg des Westens in einem kommunistischen Südosteuropa. Man musste feststellen, dass man, neben der Türkei, nicht mehr das einzige Liebkind der Amerikaner in der Region war und verstand die EU nicht mehr, weil sich ein Gros der EU für die Desintegration Jugoslawiens einsetzte. Und die EU verstand in dieser Zeit Griechenland nicht, etwa wegen der Makedonien-Frage, verstand vor allem aber nicht, warum man immer wieder bei Entscheidungen von Griechenland mit einem Veto erpresst wurde. Die EU war damals von Griechenland überfordert, so wie man in der EU heute mit Griechenland und der griechischen Elite überfordert ist.
Sehen Sie innerhalb der EU ein Land, das ein guter Vermittler zwischen Griechenland und der EU wäre? Deutschland scheint es ja nicht zu sein.
Skordos: Das ist eine gute Frage. Ich denke, dass die deutsche Art der Argumentation mit dem erhobenen Zeigefinger in Griechenland überhaupt nicht gut ankommt, weil da eben auch eine Vergangenheit da ist. Vielleicht wäre Frankreich ein Land, das da einen guten Zugang hat. Allerdings geht es ja um die Maßnahmen, die Griechenland abverlangt werden, und da ist es nebensächlich, ob ein Deutscher oder Franzose das formuliert. Ich glaube, die Maßnahmen, die verlangt werden, brauchen vor allem Zeit. Und das wird im Moment viel zu wenig gesehen.

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„Griechenland hatte extreme Schwierigkeiten, sich nach 1989 neu zu positionieren“
Wie sehen Sie das Verhältnis der Bevölkerung und der politischen Eliten in Griechenland?
Skordos: Das Verhältnis des Griechen zu seiner Partei war in den letzten zwei Jahrzehnten weniger ein Verhältnis der Überzeugung, dass die Partei gut für das Land ist. Es war eher die Frage, ob die Partei gut für die persönliche Situation war. Und ab dem Moment, wo eine Partei nicht mehr dieses Wunschdenken der Bevölkerung bedienen konnte, kann man feststellen, wie rasch eine große zu einer kleinen Partei werden kann, etwa wenn man sich die PASOK ansieht, die den Klientelismus sehr stark gefördert hat. Für die PASOK, die sich ja mittlerweile auch zu einer marktliberalen Partei gewandelt hat, war das ja auch eine Ernüchterung, zu sehen, wie wenig die Wähler ideologisch gebunden waren. Jetzt sucht man die realitätsferne Vorstellung, dass alles wieder gut wird, bei SYRIZA eines Alexis Tsipras.
Welche Rolle spielen die Medien in Griechenland in der momentanen Lage?
Skordos: Die Medien spielen eine wichtige Rolle. Ich glaube, man muss wirklich mal betonen, dass Griechenland im Kern nicht ein wirtschaftliches Problem hat, es hat hauptsächlich ein politisches, gesellschaftliches und soziales Problem. Da haben die Medien eine entscheidende Rolle gespielt, indem sie gegen das kritische Denken in Griechenland gesteuert und den Populismus bedient haben. Etwa in der Makedonien-Frage hat man weniger informiert und mehr manipuliert – griechische Journalisten erheben für sich den Anspruch, in jedem Thema ein Experte zu sein, so dass Experten gar nicht die Möglichkeit haben, ihre Meinung in der Öffentlichkeit kundzutun. Auch in der wirtschaftlichen Berichterstattung wird die Rolle von Europa kritisch durchleuchtet, niemand spricht aber von der Verantwortung des Einzelnen in der momentanen Krise.
Ist die Krise im Moment auch eine Vertrauenskrise innerhalb der griechischen Gesellschaft?
Skordos: Es hat in den letzten Jahrzehnten ein Egoismus in Griechenland stark Platz gegriffen. Der Prozess, dass man sein persönliches Wohl mit dem der Allgemeinheit in Verbindung brachte, hat tatsächlich gefehlt. Es gibt ein interessantes Phänomen hinter dem griechischen Patriotismus: Man liebt die Nation, aber hasst den Staat. Daraus resultiert die Einstellung: Steuern zahlen bringt nichts, weil das Geld dann über Korruption verloren geht, sprich, man hat nicht das Gefühl, dass das Geld gut über Steuern investiert ist.

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„Griechenland hat im Kern nicht ein wirtschaftliches Problem, sondern hauptsächlich ein politisches, gesellschaftliches und soziales Problem“
Es tauchen neue Parteien in Griechenland am politischen Rand auf, und Europa tut sich schwer, diese Parteien einzuordnen. Welche alten Muster wirken in diesen scheinbar neuen politischen Bewegungen?
Skordos: Diese Parteien haben eine neue Fassade, aber sie ähneln den alten Parteien – sie sind ähnlich populistisch. Alexis Tsipras erinnert sehr an Andreas Papandreou in den 1980er Jahren, der auch allen alles versprochen hatte. Er gibt im Moment keinerlei plausible Antworten zu den Problemen. Es ist kein Zufall, dass sich viele PASOK-Anhänger in SYRIZA wiederfinden. Die weitere Entwicklung dieser Partei wird interessant sein, weil diese Partei eine inhomogene Ansammlung linker Kräfte ist. Da ist die Frage, welche Linie sich durchsetzen wird. Positiv muss man ihnen anrechnen, dass sie sich gegen den Rechtsradikalismus wehren. Auf anderen Gebieten versprechen sie den Griechen das Unmögliche, was sehr lange auch der Vorsitzende der konservativen Nea Dimokratia, Antonis Samaras, tat, der ohnehin seine politische Karriere auf die populistische Ausschlachtung der makedonischen Frage aufgebaut hat.
Wie werden griechische Eliten auf die Krise reagieren? Droht ein „Braindrain“?
Skordos: Die Griechen haben eine lange Tradition, Diaspora-Gemeinschaften im Ausland aufzubauen und sich in den neuen Gesellschaften zu integrieren und sich dort zu etablieren. Denken Sie nur an die griechische Diaspora in den USA, die eine einflussreiche Gruppe ist. Auch in Deutschland oder Österreich hat man nie ein großes Integrationsproblem mit Griechen gehabt – und einige haben es ja in führende Positionen geschafft. Für Griechenland ist das ein Nachteil. Der gut ausgebildete Grieche wird den Weg ins Ausland suchen.
Glauben Sie, dass die Diaspora einen Einfluss auf Reformen in Griechenland nehmen kann, in einer längerfristigen Perspektive? So wie sich vor dem griechischen Unabhängigkeitskrieg in Städten wie Wien und Odessa Gesellschaften gebildet haben, die die Griechenland-Frage aufs Tapet brachten?
Skordos: Das sicherlich, aber nicht in einer kurzfristigen Perspektive.
Das Interview führte Gerald Heidegger, ORF.at