Zahl der prekär Beschäftigten nimmt zu
Immer mehr Menschen in Österreich erhalten Sozialhilfe beziehungsweise Mindestsicherung. Eine aktuelle Studie beschreibt, wie Menschen trotz bezahlter Arbeit in die Armutsfalle geraten.
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Wer so wenig verdient oder so wenig Arbeitslosengeld bekommt, dass er unter dem Sozialhilferichtsatz liegt, der hatte bis Ende 2010 Anspruch auf Sozialhilfe - jetzt gilt die „bedarfsorientierte Mindestsicherung“. Gerade diese Gruppe wird immer größer, stellt der Soziologe Manfred Krenn von der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA) in seiner jüngsten Studie fest.
Die Mindestsicherung
Mit 1. Jänner 2011 hat die Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) die Sozialhilfe in allen Bundesländern ersetzt. Anspruch haben alle Personen, die Lebensunterhalt, Wohnbedarf und Krankenversicherung nicht aus Eigenem finanzieren können und „die zu einem dauernden Aufenthalt im Inland berechtigt sind“.
Gratis putzen nach Kassaschluss
Zwischen Ende der 1990er Jahre und 2011 habe sich die Zahl jener, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, auf 170.000 verdoppelt, berichtete das Ö1-Morgenjournal mit Bezug auf die FORBA-Studie. Die meisten Menschen bekamen die Sozialhilfe deshalb, weil sie in ihrem Job zu wenig verdienten oder weil sie so wenig Arbeitslosengeld erhielten, dass das Einkommen durch Sozialhilfe aufgestockt werden musste. Krenn berichtete im Ö1-Interview von der wachsenden Anzahl an Menschen, die zwischen Arbeitslosigkeit und prekären Jobs hin und her pendeln - mehr dazu in oe1.ORF.at.
Die Studie beschreibt bestimmte Tätigkeiten wie das Vorbereiten der Backöfen in den Feinkostabteilungen von Supermärkten und nach Kassaschluss zu verrichtende Abrechnungen und Putzarbeiten, die immer häufiger zum normalen Arbeitsalltag gehören - obwohl sie in der Freizeit passieren, wie Krenn betont. Denn „Arbeiten nach Kassaschluss werden nicht bezahlt“. Viele berichten auch von beruflichen E-Mails, die nach Büroschluss zu Hause erledigt werden müssen.
Vom Praktikanten zum Sozialhilfeempfänger
Prekäre Arbeitsverhältnisse betreffen aber nicht nur schlecht Ausgebildete - auch dieses Fazit zieht der Studienautor. Gerade beim Berufseinstieg nehmen viele unbezahlte Praktika in Kauf - in der Hoffnung, irgendwann in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis zu kommen, was sich aber für viele als Illusion erweise, so Krenn. „Und wenn sie dann dieses prekäre Beschäftigungsverhältnis verlieren, landen sie in der Sozialhilfe, weil sie keine anderen Ansprüche haben.“
Als Ursache nennt er die wachsende Zahl an „prekären Beschäftigungsformen“, also Arbeitsplätze ohne soziale Absicherung. Außerdem wachse der Niedriglohnsektor, „wo die Löhne so niedrig sind, dass die soziale Teilhabe auch mit Vollzeitbeschäftigung gefährdet ist“.
Neuer Armutsrekord
Für 511.000 Menschen ist der absolute Mindestlebensstandard nicht mehr finanzierbar, berichtete die Statistik Austria Ende letzten Jahres. Eine Million Österreicher, zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung, sind demnach armutsgefährdet.
Kein Sprungbrett für besseren Job
Krenns Studie zeige die schwindende soziale Integrationskraft von Erwerbsarbeit, wie die Armutskonferenz am Mittwoch in einer Aussendung festhält. „Doch viele kommen aus ihrer schlechten Situation nicht mehr oder nur schwer heraus“, so die Armutskonferenz, deren Mitglieder 50.0000 Hilfesuchende im Jahr unterstützen und betreuen. Für Deutschland zeigten Studien, dass es für mehr als 70 Prozent der „Billigjobber“ keinen Aufstieg in höhere Lohnsegmente gebe.
Das von Befürwortern eines Niedriglohnsektors häufig verwendete Argument, Niedriglohn sei ein Sprungbrett in höhere Einkommensschichten, werde durch diese Ergebnisse widerlegt. „Pendler“ und „Wiedereinsteiger“ in die Sozialhilfe machen demnach bereits 42 Prozent der Sozialhilfe- bzw. Mindestsicherungbezieher aus, warnt die Armutskonferenz.
„Richtsatzergänzungen“ zum Überleben
173.000 Menschen in Privathaushalten leben unter Sozialhilfebedingungen, darunter 30 Prozent Kinder. Frauen sind etwas stärker betroffen, listet die Armutskonfernz auf. Die neuen „Working Poor“ erhalten demnach von der Mindestsicherung „Richtsatzergänzungen“, um zu überleben. Weiters hätten vor allem Personen mit physischen oder psychischen Beeinträchtigungen auf dem Arbeitsmarkt schlechte Chancen.
Nur Überbrückungshilfe
Daten aus Wien zeigen, dass für die große Mehrheit die Sozialhilfe eine kurzfristige Überbrückungshilfe darstellt. Die durchschnittliche Bezugsdauer beträgt demnach rund sieben Monate, bei 25 Prozent bloß ein bis drei Monate. Nur rund zehn Prozent leben zur Gänze und dauerhaft von der Leistung.
Besonders depressive Erschöpfungszustände nehmen demnach zu: Vier von zehn Mindestsicherungsbezieher haben gesundheitliche Beeinträchtigungen. Vor allem auch die steigenden Lebenshaltungskosten beim Wohnen wirken sich bei geringem Einkommen überproportional stark aus.
AK fordert neue Kollektivverträge
Es treffe viele, die es sich „nie gedacht hätten“, so die Armutskonferenz. Die Mehrheit wünsche sich einen ganz normalen Job, sagt auch Krenn: einen, der soziale Absicherung bietet und auch zulässt, sein Leben längerfristig zu planen. Die Lösungsansätze klaffen weit auseinander, wie erste Reaktionen der Arbeiterkammer (AK) und Wirtschaftskammer (WKÖ) am Mittwoch zeigen. Während die AK für bestimmte Branchen neue Kollektivverträge fordert, hat die Wirtschaftskammer kein Problem mit prekären Arbeitsverhältnissen - mehr dazu in oe1.ORF.at.
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