Ein Lehrstück in Zeitgenossenschaft
Am Eröffnungswochenende der documenta (13) in Kassel war neben dem Betrachten der Kunstwerke auch die Beobachtung der Besucherreaktionen ergiebig. Die rund 300 vertretenen Künstler sorgten für Staunen und angeregte Debatten - darüber, was Kunst ist und was es heißt, Mensch zu sein.
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Der zentrale Ort dieser documenta ist zweifellos die Karlsaue, ein großer, schöner, gepflegter Park, der trotzdem wilde Ecken aufweist. Auf einer riesigen Wiese vor der Orangerie befindet sich jenes Kunstwerk, über das documenta-Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev am liebsten spricht: der „Doing Nothing Garden“ des chinesischen Künstlers Song Dong - ein acht, neun Meter hoher Hügel mit rund 20 Metern Durchmesser, von vielen Pflanzen bewachsen und von einer breiten Umrandung eingefasst, die zum Sitzen einlädt.

ORF.at/Simon Hadler
Song Dong: Doing Nothing Garden (2010 bis 2012)
Ein Bub ist drauf und dran, den Berg zu erklimmen. Seine Mutter hält ihn davon ab: „Du darfst da nicht raufklettern.“ - „Wieso? Das ist ein Hügel, und da steht nicht, dass man das nicht darf.“ - „Ja, aber das ist jetzt Kunst.“ - „Ich versteh’ unter Kunst Bilder und so.“ - „Ja, das ist etwas Reales, aber Kunst ist es trotzdem. Komm, gehen wir. Ich zahl’ Dir mal einen Kletterkurs.“ Die Frau hat Glück - ihr Sohn fragt nicht weiter nach.
Es sprießt aus Restmüll und Bauschutt
Genau diese Frage ist es, die man bei der documenta (13) allerorten hört, die in den Ausstellungen von Besuchern genauso diskutiert wird wie von Experten in den Feuilletons. Können Natur und Naturwissenschaft Kunst sein, wie so viele Werke in Kassel nahelegen? Art is life - life is art? Im Weltbild Christov-Bakargievs ist das so. Künstlerische Virtuosität, die darauf abzielt, verkauft werden zu können, interessiert sie nicht. Auf der documenta sind kaum große Namen vertreten.
Dafür Künstler wie Song Dong. Er ist glücklich, sagt er gegenüber ORF.at, dabei sein zu dürfen - und das merkt man ihm an. Wild gestikulierend erklärt er sein Kunstwerk, mit eindringlicher Stimme, für einen Moment verschwindet sogar das höfliche Lächeln von seinen Lippen. Restmüll von Kasselern hat er mit Bauschutt vermischt und dann darauf 80 heimische Pflanzen gesät, darunter Gemüse, das gerne geerntet werden darf.
„Gut, dann mache ich eben nichts“
Es ist ein Statement gegen die Konsum- und Wegwerfgesellschaft. Etwas oder nichts haben, erklärt Song Dong, ist dasselbe. Wofür sich abrackern, um Dinge anzuhäufen, die man am Ende wegwirft? Da kann man genauso gut nichts tun. Und als Christov-Barkagiev sagte - sie behauptet das immer noch - dass sie kein Konzept für die documenta hat und er machen soll, was er will, habe er geantwortet: „Gut, dann mache ich eben nichts.“ Natürlich hat er sich viel Arbeit angetan mit seinem „Doing Nothing Garden“.

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Die documenta weist den Weg: Solidarische Ökonomie mit der Künstlergruppe AND, AND, AND
Keine 200 Meter entfernt findet sich ein Stand mit regionalem Biogemüse und Sandwiches - ebenfalls ein Teil der documenta - nach einem Konzept der Gruppe AND, AND, AND. Jan Fiedler, ein junger Mann, der dort Kohlrabi, Gurken und Käsebrötchen verkauft, ist sich sicher, dass das Kunst ist. Das sei doch schließlich deren Aufgabe: gesellschaftlichen Wandel anzutreiben.

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Kristina Buch: miniature (2012) - Natur als Kunst, hier in Form eines wilden Hochbeets
Dass das nicht nur ein engagierter Bursche sagt, sondern dass diese Ansicht die Leitlinie der wohl wichtigsten Ausstellung der Welt ist, könnte über Kunstkreise hinaus einen Paradigmenwechsel einläuten, der sich im kleinen, bei Tausenden widerborstigen Ausstellungen und Initiativen in aller Welt längst angekündigt hat. Noch vor wenigen Jahren wurde man mit Solidaritäts- und Nachhaltigkeitskunst in die Jesuspatschenecke gestellt. In Kassel finden vor allem die jüngeren Besucher den „Doing Nothing Garden“ und Kristina Buchs Schmetterlingsgarten cool.
Eine Frage der Liebe und der Intelligenz
Diesem Coolnessbegriff folgt man im „Buch der Bücher“, dem dicken Begleitband, der zur documenta erschienen ist. Darin zitiert Christov-Bakargiev aus einem Brief, den sie selbst einmal an eine Freundin geschrieben hatte. Wie sei es möglich, fragt sie rhetorisch, nicht zeitgenössisch zu sein, keine Ausstellungen zu kuratieren und trotzdem Liebe und Intelligenz zu artikulieren? Sie müsse alle Missverständnisse umschiffen, um Orte der Rebellion zu schaffen und Widerstand, Rückzug und Aufschub zu zelebrieren.
Die Revolte, Krieg, Imperialismus, Widerstand - alles Themen, die neben der Nachhaltigkeitsdebatte bei dieser documenta intensiv behandelt werden. Satelliten der Ausstellungen finden sich in Afghanistan, Ägypten und Kanada. Im „Brain“, der ganz persönlichen Referenzschau Barkagievs im Kasseler Fridericianum, zeigt sie unter anderem das Video des ägyptischen Künstlers und Lehrers Ahmed Basiony, der in Kairo im Zuge des arabischen Frühlings erschossen wurde.

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Kader Attia: The Repair (2012); geschnitzter Kriegsversehrter - daneben das Buch „Le Grande Guerre“
Der in Algerien und in der Pariser Vorstadt aufgewachsene Künstler Kader Attia wiederum führt auf drastische Weise vor, wie Propaganda und Wirklichkeit im Fall von bewaffneten Konflikten auseinanderklaffen. Er projiziert historische Fotos von behelfsmäßig verarzteten Verwundeten an die Wand - ein Monstrositätenkabinett. Von diesen Fotos hat er große, geschnitzte Porträts angefertigt und diesen Bücher und Zeitschriften gegenübergestellt, die sich am Krieg begeilen - ein erschütternder und gleichzeitig ästhetisch herausragender Höhepunkt dieser documenta.
Quantenkunst vom Meister selbst
Die Perspektive, aus der man die Welt betrachtet, oder betrachten könnte, ist das Metathema der Kasseler Schau. In Interviews und bei Pressekonferenzen hatte Christov-Bakargiev gesagt, es interessiere sie, wie ihr Hund die Welt sehe - und außerdem sollten Erdbeeren auch wählen gehen dürfen. Das kann man wohl als Provokation und Überspitzung abtun. Dass sie aber das anthropozentrische Weltbild im Sinne einer menschlichen Egomanie ablehnt, die keine Rücksicht auf die Zukunft oder auf andere Arten kennt, darf man ihr glauben.

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Anton Zeilinger mit seinen Dissertanten Christoph Schäff, Bernhard Wittmann und Robert Fickler; im Hintergrund ein interessierter Besucher
Neben dem Ausweg, einfach einmal Natur Kunst sein zu lassen, kommt bei der documenta auch die Wissenschaft selbst zu Wort. Berichterstatter aus aller Welt lieben das aufgebaute Experimentallabor des Wiener Physikers Anton Zeilinger und seiner Doktoranden. Photonen werden gespalten, Laserstrahlen hin- und hergeschossen. Es hat mit Quantentheorie zu tun. Aber mit Kunst? Eröffnet Wissenschaft neue Perspektiven und ist deshalb Kunst?
„Viel zu theoretisch“
Im Gespräch mit ORF.at winkt Zeilinger ab: „Das ist mir alles viel zu theoretisch.“ Er findet die Schau insgesamt spannend und freut sich darüber, Laien Wissen vermitteln zu können. Die wiederum lassen sich ehrfürchtig vom Meister selbst erklären, was sie da sehen und verfolgen die Experimente mit großem Interesse. Nur ein Besucher war skeptisch - er hat auf die Formeltafel unten dazugeschrieben: „Des Kaisers neue Kleider tauchen auf.“ Radikal ist das gezeigte zweifelsohne - es stellt unsere Vorstellung von Realität weit umfassender infrage als jedes Kunstwerk.
Mögliche Blicke auf die Welt werden auch aus historischer Perspektive betrachtet. So zeigt sich die visionäre Kraft der Kunstwerke eines Thomas Bayrle - der den Mobilitätswahn bereits vor Jahrzehnten anprangerte. Von ihm ist die Endlosstruktur einer Autobahn zu sehen und ein Flugzeug, das aus Flugzeugbildern zusammengesetzt ist, die ihrerseits aus Flugzeugbildern bestehen.

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Thomas Bayrle: Sternmotor: Hochamt (2010) - der betende Motor
Ebenso bestechend sind seine neu geschaffenen betenden Motoren. Kolben bewegen sich sinnlos, stöhnen, röhren, beten. Das ist der wahre Abschied vom Anthropozentrismus - Maschinen befreien sich aus unserer metaphysischen Umarmung, indem sie selbst der Metaphysik anheimfallen.

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Yan Lei: Limited Art Project (2011 bis 2012); verfremdete Bilder aus dem Web
Hinweise
Documenta (13): geöffnet noch bis 16. September in Kassel, täglich von 10.00 bis 20.00 Uhr; Tageskarte: 20 Euro.
Zur documenta (13) ist ein Katalog erschienen: Das Begleitbuch. Hantje Cantz, 538 Seiten, 24 Euro.
Ebenfalls zur documenta (13) erschienen: Das Buch der Bücher (Texte, Fotos, Zeichnungen und Notizen zur Ausstellungen, Anm.). Hantje Cantz, 816 Seiten, 68 Euro.
Ein nostalgischer Abschied
Die Geister der Vergangenheit sind es schließlich auch, von denen sich Yanl Lei nostalgisch verabschiedet. Er hat ein Jahr lang jeden Tag ein Foto aus dem Internet heruntergeladen, verfremdet und auf Leinwand gedruckt. Die Götzenbilder der Moderne und der Postmoderne wirken wie verstaubte Porträts aus einer Ahnengalerie - darunter Mao, Janet Jackson, Sarkozy und willkürliche Fundstücke aus dem Netz.
Fügt sich all das - vom Grashügel bis zu Janet Jackson - nun in ein Konzept ein, oder herrschte Christov-Bakargiev tatsächlich willkürlich über ihr Reich? Grashügelkünstler Song Dong sagt gegenüber ORF.at: „Sie hat kein Konzept. Aber sie stellt die Frage neu: Was ist Kunst? Was ist Leben? Und die verschiedenen Bereiche der Ausstellung geben unterschiedliche Antworten.“
Drastisch, analytisch, empathisch
Man könnte auch sagen: Christov-Bakargiev hat eine Haltung und eine Geschichte. Die documenta spiegelt ihre Weltsicht wieder, die geprägt ist von Theoretikerinnen wie der Feministin und Naturwissenschaftshistorikerin Donna Haraway, geprägt von einem Leben für die Kunst und von dem, was Christov-Bakargiev unter Zeitgenossenschaft versteht.
TV-Hinweis
„Kultur.montag“ zeigt am Montag ab 22.30 Uhr in ORF2 einen Beitrag zur documenta (13) - mehr dazu in tv.ORF.at.
Fast 300 Künstler hat sie dafür gewonnen, sich ihr anzuschließen, ob humorvoll, drastisch, analytisch oder empathisch. Kassel ist dieser Tage eine Reise wert - eine Entdeckungsreise, die über Raum und Zeit hinausweist, und das nicht nur wegen Zeilingers Beitrag zur Quantentheorie.
Simon Hadler, ORF.at aus Kassel
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