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Ein Siegfried mit Biberfellmütze

Regisseur Wes Anderson, mehrfach Oscar-nominiert und Cannes-Veteran, wurde heuer eine besondere Ehre zuteil: Sein Film „Moonrise Kingdom“ eröffnete das Festival an der Croisette. Die Erwartungen an das Pfadfinderdrama waren im Vorfeld hoch, nicht zuletzt aufgrund der prominenten Schauspielerriege.

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Anderson ist ein filmerisches Gewohnheitstier. In allen seinen Filmen hatte Owen Wilson mitgespielt, teilweise sogar am Drehbuch mitgearbeitet. Nun, bei „Moonrise Kingdom“, war Wilson aber erstmals nicht dabei. Dafür spielt Bill Murray mit, der seinerseits außer im allerersten Film des Regisseurs immer mit von der Partie war. Jason Schwartzman ist ebenfalls bereits zum vierten Mal dabei.

Erstmals arbeitete Anderson mit Bruce Willis, Frances McDormand, Edward Norton, Harvey Keitel und Tilda Swinton zusammen - ein Cast, mit dem sich die Grenze zwischen Mainstreamkino und Arthouse mühelos überschreiten lässt. Die große Überraschung aber sind die beiden 13-jährigen Hauptdarsteller: Jared Gilman als Sam und Kara Hayward als Suzy.

Scout Master Ed Norton, „Good Cop“ Bruce Willis

1964, Sam ist Vollwaise und wird wegen seines eigenbrötlerischen Charakters und seiner komplizierten Persönlichkeit von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht. Seine Konstante sind die Pfadfinder, obwohl er samt seiner übergroßen Brille auch unter ihnen als Außenseiter gilt. Beim Sommerlager auf einer Insel lernt er Suzy kennen, die mit ihren Eltern (Murray und McDormand) und kleinen Brüdern dort lebt und nicht weniger eigen ist. Sie schweigt viel, geht nur in Form gelegentlicher Gewaltausbrüche aus sich heraus und schminkt sich die Augen dunkel.

Jared Gilman als Sam und Kara Hayward als Suzy

TOBIS Film

Kara Hayward als Suzy und Jared Gilman als Sam

Die beiden werden Brieffreunde und planen, im nächsten Jahr gemeinsam durchzubrennen. Hier setzt die eigentliche Handlung ein. Sam erweist sich bei der Flucht durch die raue Natur als hervorragend ausgebildeter Camper und Pfadfinder, Suzy kann sich auf ihn verlassen. Dicht auf den Fersen sind ihnen allerdings die wenig wohlmeinenden Pfadfinderkollegen Sams, angeführt von ihrem ernsthaft besorgten Betreuer Scout Master Ward (Ed Norton), unterstützt vom gutherzigen Polizisten Captain Sharp (Bruce Willis).

Auf der Flucht mit Hank Williams

Anderson ist nicht nur als plausibler Darsteller komplexer Beziehungsverhältnisse meisterlich, er gilt auch als Magier der Bilder. Noch intensiver als zuvor arbeitet er bei „Moonlight Sunrise“ mit Musik. Das Haus, in dem Suzy mit ihrer Familie lebt, wird von der Kamera stoisch vermessen und nicht zuletzt durch Benjamin Britten zum Maniac Mansion. Hank Williams begleitet das coole Teenie-Pärchen dann auf seiner Flucht.

Und durch den weiten Winkel der Kamera fühlt man sich als Zuschauer oft, als stünde man zwergenklein in der Ecke und betrachte ein Szenario aus der Götterdämmerung. Nur dass Andersons Siegfried ein blasser Bub im Pfadfinderanzug mit Biberfellmütze ist. Der Regisseur tritt an zu beweisen, dass auch Nerds Helden sein können - echte Nerds wie Sam wohlgemerkt, nicht Modenerds, die vorübergehend dicke Brillenränder cool finden und trotzdem ins Solarium und ins Fitnesscenter gehen und die in jeder Skihütte durch ihren leutseligen Charme reüssieren.

Regisseur Wes Anderson

TOBIS Film

Wes Anderson am Set

Popcornkino auf höchstem Niveau

Die Handlung nimmt ihren Lauf - und Dramatik, Action, Liebe sowie viel Humor sind die Ingredienzen, aus denen Anderson sein Pfadfindermärchen zusammenbraut. Selbst die triste Ehe von Suzys Eltern - weitere Glanzrollen für Murray und McDermond - führt der Regisseur, der mit den „Royal Tenenbaums“ berühmt wurde, mit humorvollen Sidekicks vor und stellt ihr die aufkeimende Liebe von Sam und Suzy gegenüber.

Norton und Willis sind bei alldem die „Good Guys“, die verzweifelt versuchen, die Flucht der beiden Teenies zu beenden und Sam trotzdem nicht der von Swinton in Fräulein-Rottenmeier-Manier gespielten Jugendamtsbeauftragten übergeben zu müssen - da diese den Bursch in ein Heim stecken will. Als auch noch eine Sturzflut niedergeht, die von Sturm begleitet wird, spitzt sich die Lage in jeder Hinsicht zu.

Gilman als Pfadfinder Sam und Hayward als seine dunkle Freundin Suzy könnten als eines der coolsten Desperadopärchen in die Filmgeschichte eingehen - neben Woody Harrelson und Juliette Lewis („Natural Born Killers“) und Warren Beatty gemeinsam mit Faye Dunaway („Bonnie und Clyde“). „Moonrise Kingdom“ ist Popcornkino auf höchstem künstlerischen Niveau - und hat das Zeug zum Klassiker.

Simon Hadler, ORF.at

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