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„Nach ihm die Sintflut“

Johann Nepomuk Nestroy sei in keine Sprache zu übersetzen, nicht einmal ins Deutsche. Das Urteil von Hans Weigel über den österreichischen Volksdramatiker ist so richtig wie falsch. Denn dass Nestroy auch abseits von Österreich ein Klassiker auf deutschen Bühnen ist, kann kaum bestritten werden. Auf der anderen Seite ist das Werk des Mannes, der vor 150 Jahren starb, kaum vom politischen und sozialen Umfeld zu trennen, in dem es entstand.

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Der Weg zu Nestroy führt durch ein Feld sozialer Anerkennungskämpfe, in dem nicht nur politische Pressionen eine Rolle spielen. Die Positionierung von Nestroy auf der Bühne, zunächst im Gesang, wie zahlreiche Würdigungen zu seinem Todesjahr erinnernd belegen, verweist nicht zuletzt auf eine Aufführungspraxis von Theater, in dem Erfolg haben und Geldverdienen eine nicht unwesentliche Triebfeder sind.

Der Weg zu Nestroy führt auch zu einem Workaholic, der für seine Positionierung einen Lebensweg auf sich genommen hat, der mehr an einen Legionär im zeitgenössischen Fußballbetrieb erinnert als an einen vor sich hinbrütenden Kunstschaffenden.

Johann Nestroy als Tratschmiedl

picturedesk.com/Österr. Nationalbibliothek

Nestroy: Der Bühnenautor als erfolgsverwöhnter Schauspieler

Nestroy und der Takt der Oper

Nestroys Weg auf die Bühne, daran erinnert Renate Wagner in ihrer neuen Nestroy-Biografie, ist zunächst von der Musik bestimmt. Wagner zeichnet darin das Bild eines rastlosen und nach oben strebenden Mannes, der seine Bühnenwirkung zunächst im Fach der Oper erprobte, bevor er zunehmend Theaterrollen übernahm. Interessant an diesem Übergang von der Oper zum Theater ist der Takt, aus dem sich das Werk Nestroys speist: Die Erfahrung der Bühnenpraxis der Oper hat auch die von Nestroy belebte und radikalisierte Form der Wiener Volkskomödie „getaktet“, die Schnelligkeit und Präzision, mit der Pointen zum richtigen Zeitpunkt gesetzt werden. Auch das Improvisieren verweist letztlich auf eine bis zu Mozart zurückgehende Praxis.

Wenn mit dem Tod von Nestroy die Wiener Volkskomödie, immerhin die einzig virulente „neue“ Theaterform auf deutschen Brettern der Zeit, ihren Abstieg erlebt, drängt sich das Musiktheater, gerade in der populären Wahrnehmung, in den Vordergrund: Nach (und schon in den letzten Lebensjahren von) Nestroy steht Jacques Offenbach mit der bösen bis bissigen Opera bouffon als neuer Erfolgsmotor in der Publikumsgunst vor der Tür.

Das Wienerische als Mittel der Kunst

Dass Nestroy aus dem, man könnte heute sagen, „Entertainment“ kommt, ist zentral für die Ausrichtung seiner Stücke: Er will und sucht ein wachsendes Stammpublikum, sät in diesem eine bissig Satire und lässt so seinen Ruf in die Welt tragen.

Das Wienerische ist bei Nestroy ein Kunstmittel, ein Medium, das eine Berg-und-Tal-Fahrt von Pointen, Kalauern, Nuancierungen ermöglicht und immer wieder zu satirischen Forcierungen reizt. Ein Wiener „Dialektdichter“, als den man ihn oft rezipiert hat, ist er weniger als ein Modernist, der die Möglichkeiten und Feinheiten von Sprache und ihrem oszillierenden Bedeutungsfeld ausnutzt. Peter Handkes Sprachspiele, aber auch die Textmaschinenprosa einer Elfriede Jelinek samt dem Spiel von Bedeutungserzeugung und Bedeutungsabnutzung verweisen bis zurück auf Nestroy.

„Bei Nestroy gibt es winzige Zwischenszenen, wo ein Satz über die Bühne geht und eine Figur, ein Milieu, eine Epoche dasteht“, schreibt Karl Kraus. Kraus ist eine jener Stimmen, die in ihrer Zeit die Modernität von Nestroy betonen und beachtet sehen wollen – für Kraus typisch ist freilich auch, dass er das Nicht-Verstehen seiner Zeit gegenüber Nestroy immer seinem eigenen Überdurchschauen dieses Theaterdichters kontrastieren muss.

Zeichnung von Johann Nestroy

picturedesk.com/Österr. Nationalbibliothek

Als Nestroy seine Karriere beginnt, hält man das Autorenporträt noch in Stichen fest. Am Ende seines Lebens ist bereits die Fotografie in die Porträtkunst eingezogen.

Ein Revoluzzer aus bürgerlichen Verhältnissen

Als zweites von acht Kindern ist Nestroy in Wien in durchaus bürgerliche Verhältnisse geboren worden, und der Mann, der wie der Vater Johann heißt und noch den Heiligen Nepomuk als weiteren Vornamen bekommt, soll wie der Vater die Juristenlaufbahn einschlagen.

Doch Nestroy bleibt nicht nur in Philosophievorlesungen hängen, ihn zieht es, eigentlich mehr nebenbei und bedingt durch die musikalische Förderung, auch ins Gesangsfach, in Richtung Bühne. Ab 1822 singt er in der Bassstimmlage am Wiener Hoftheater. Dieses Engagement soll Grundlage für eine Ehe mit Wilhelmine von Nespiesni sein, die sich bald als Nemesis seiner frühen Theaterjahre erweisen wird.

Nestroy beginnt an der Seite Wilhelmines seine „Theaterlehrjahre“: Sie übersiedeln zunächst nach Amsterdam, Brünn, Graz, Preßburg und Lemberg. In den 1820er Jahren entstehen seine ersten Stücke. 1826 wird „Die Verbannung aus dem Zauberreiche“ am Grazer Schauspielhaus uraufgeführt, danach folgen Engagements in Wien, wo er schnell zum beliebten Schauspieler und Dichter von Possen aufsteigt. Von nun an beginnt sich das Rad zu beschleunigen: Nestroy spielt, liefert immer neue Stücke ab - hat Erfolg und legt nach. Sein Markenzeichen, die Posse mit Gesang, wird zur dominierenden Form des Wiener Volkstheaters.

Nur scheinbar harmlose Fabeln

Die scheinbar harmlosen Fabeln seiner Stücke sind durchsetzt mit Anspielungen und Gesangsnummern, den berühmten Couplets, die zur freien Improvisationsform werden. Gegen den Druck der Zensur wünscht Nestroy Abweichung und Erweiterung vom vorgegebenen Text. Auch sonst bewegt er sich in der Zeit des Vormärz auf einem schmalen Grat mit Anspielungsorten wie „Krähwinkel“, der von der Zensur unangreifbar, für das Publikum aber leicht als Stellvertreter für das verkommene Wien sein soll.

Neue Biografien

Zum 150. Todestag sind drei neue Nestroy-Biografien erhältlich: Edgar W. Yates’ „Bin Dichter nur der Posse“ zeigt sich als „Versuch einer Biographie“, während Renate Wagner sich in „Der Störenfried“ dem Theaterleben des Dichters gewidmet hat. Von Peter Eschberg stammt „Nestroy bleibt!“

Der Erfolg von Stücken wie „Der böse Geist Lumpazivagabundus“ (1833), „Der Talisman“ (1840) und „Einen Jux will er sich machen“ (1842) ist groß. Gemeinsam mit Wenzel Scholz bildet er das Modell eines Komikerpaares, das auch ein Jahrhundert später noch kopiert wurde.

Scharfer Blick auf soziale Entwicklungen

Wie scharf und nuanciert Nestroys Blick gerade auf soziale Entwicklungen ist, macht sein Stück „Zu ebener Erde und erster Stock“ deutlich, das bei seiner Uraufführung am Theater an der Wien im November 1834 eine zweigeschoßige Bühne zeigt, auf der das Publikum auf der Belle Etage eine reiche und im Erdgeschoss, zur ebenen Erde, die armen Leute erblickt. Das Schicksal verteilt Nestroy konträr zur sozialen Schichtung: Die Reichen müssen Schicksalsschläge verkraften, den Armen widerfährt das Glück.

Buchhinweise:

  • Edgar W. Yates: „Bin Dichter nur der Posse: Johann Nepomuk Nestroy. Versuch einer Biographie“, 312 Seiten, Verlag Johann Lehner, 24,90 Euro.
  • Renate Wagner: „Der Störenfried. Johann Nestroy - Ein Theaterleben“, 256 Seiten, Verlag Kremayr & Scheriau, 24 Euro.
  • Peter Eschberg: „Nestroy bleibt!“, Edition Steinbauer, 136 Seiten, 22,50 Euro.

Prophet des Untergangs

Wenn Kraus 1912 in seinem Text „Nestroy und die Nachwelt“ das Genie Nestroy lobt, dann lauschen ihm nicht nur 1.500 Zuhörer: Kraus skizziert hier einen Propheten des - nicht nur österreichischen - Untergangs und dessen schwierige Stellung zur eigenen Zeit: „Der satirische Künstler steht am Ende einer Entwicklung, die sich der Kunst versagt. Er ist ihr Produkt und hoffnungsloses Gegenteil. Er organisiert die Flucht des Geistes vor der Menschheit, er ist die Rückwärtskonzentrierung. Nach ihm die Sintflut.“

Nestroy muss mit seiner Radikalität ein Unverstandener sein - oder anders gefragt: Hat man bei Nestroy in der breiten Wahrnehmung zu sehr an der Oberfläche gekratzt - gerade aus dem Umstand heraus, dass es einfacher ist, über seine Figuren zu lachen als mit ihnen zu lachen? Mitlachen birgt die Gefahr, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt.

Eigentlich wäre gerade der 150. Todestag ein Anlass, sich vor allem in Österreich auf den ganzen Nestroy einzulassen. Einen, der in der Satire Widersprüche aufgezeigt, vertieft hat, anstatt diese zum Weglachen freizugeben.

Gerald Heidegger, ORF.at

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