Die Posterboys der Renaissance
Jeder kennt sie, die zwei Engel des Renaissance-Malers Raffael. Sie sind viel berühmter als das Gesamtgemälde, zu dem sie gehören, die „Sixtinische Madonna“ oder „Sixtina“. Gemalt wurden sie vor 500 Jahren, heute sind sie ein eigenständiges Motiv der Populärkultur. Dass ein Detail eines Bildes einen solchen Siegeszug durch die Jahrhunderte antrat, ist einzigartig in der Kunstgeschichte.
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Der Startschuss dazu erfolgte 1803, als die beiden Engel von August von der Embde erstmals separat kopiert wurden und seither ihre eigene Karriere machten. Dabei ging es nicht länger um Kunst, es ging um Kult. Eine von der Aufklärung profanierte Gesellschaft stürzte sich nun mit umso größerer quasireligiöser Inbrunst auf das Feld der Ästhetik.
AP/Simon Kremer
Es gibt kein Produkt, für dessen Werbung Raffaels Engel nicht geeignet wären
Heute zieren Raffaels Engel Alltagsgegenstände und Nippes - von Poster, Postkarten und T-Shirts über Tassen, Keksdosen und Christbaumschmuck bis hin zu Schirmen, Bettwäsche und sogar Toilettenpapier. Sie tauchen auf Verpackungen für Biokäse, Bodylotions und Schuhcreme auf, werben für Alkohol und Süßes, Versicherungen, Immobilien und Medikamente. Sie schmücken Geburtsanzeigen und in Stein gemeißelt oder geritzt unzählige Gräber. Als Ernie und Bert, Tim und Struppi oder Donald Duck werden sie zitiert, ironisiert und persifliert.
Randerscheinung als Eyecatcher
Viele gehen davon aus, dass das Engelspaar ein eigenes Werk darstellt. Dabei bildet es auf dem Gemälde selbst im buchstäblichen Sinn nur eine Randerscheinung. Wie beiläufiger Dekor ist es auf dem untersten Bildrand platziert. Doch es fällt ins Auge - nicht nur weil die zwei Engel mit den anderen Figuren kompositorisch in Beziehung stehen und den Blick des Betrachters zurück in die Bildmitte leiten, sondern vor allem auch wegen ihrer Haltung und ihres Ausdrucks.
AP/Matthias Rietschel
Raffaels „Sixtinische Madonna“ in der Gemäldegalerie in Dresden
Lässig stützen sie sich da auf der Brüstung ab, verdrehen spitzbübisch die Augen und zupfen gelangweilt an ihrer Lippe. Sie scheinen sich zu fragen, was sie hier zu Füßen der Madonna überhaupt sollen. Wie Störenfriede durchbrechen sie die „Sacra Conversazione“ („heilige Unterhaltung“) zwischen Maria, dem Jesuskind und zwei Heiligen, lassen die andächtige Atmosphäre der Szene ins Profane, ja Komödiantische kippen und bringen sie auf das Diesseitige zurück.
Obwohl die „Sixtina“ zu den meistinterpretierten Bildern der Kunstgeschichte gehört, gibt gerade dieser „unpassende“ Ausdruck der zwei Engel bis heute Rätsel auf. Eine Röntgenuntersuchung der „Sixtina“ brachte 1983 ans Tageslicht, dass sie erst nachträglich in dünner Schicht über die schon fertigen Wolken drübergemalt wurden. Ungeklärt bleibt: Wurden sie erst nach der Freigabe durch Papst Julius II., der so irdische Engel nicht als Vorbild in einer Kirche sehen wollte, aufgetragen? Oder stammen ausgerechnet sie, wie schon im 19. Jahrhundert spekuliert wurde, nicht aus der Hand Raffaels?
Veränderung des Blicks
Isoliert von der „Sixtinischen Madonna“ ändert sich der auf diese gerichtete Blick der Raffael-Engel. Er wird zum Blick, der keinen Bezugspunkt mehr hat, sich nun unbestimmt gen Himmel richtet, auf etwas Höheres, auf eine mythische Sphäre des Jenseitigen. Jetzt schauen die zwei nicht mehr zerstreut und verschmitzt nach oben, sondern besinnlich und nachdenklich.
Ideengeschichtlich besitzen Engel dem Philosophen Walter Benjamin nach grundsätzlich eine semiotische Funktion: Ihre Gegenwart weist über sie selbst hinaus. Engel sind Beziehungswesen und Zeitüberbrücker, die im menschlich-übermenschlichen Zwischenbereich changieren. Mit ihrem Erscheinen signalisieren sie die unmittelbare Nähe eines außergewöhnlichen Ereignisses.
Konsum und Erlösung
Im sakralen Bereich verheißen sie als Himmelsboten die nahende Erlösung, im profanen Bereich als Bannerträger der Wirtschaft den nahenden Konsum. Ob Schlitzohrigkeit, Rührseligkeit, Nachdenklichkeit oder Klugheit ausdrückend, ob vielleicht zu menschlich oder doch engelhaft auftretend, ob den Betrachter je nach Bedarf auf den Boden zurückholend oder aber auf Überirdisches lenkend - immer sind Raffaels zwei Engel jedenfalls emotional positiv besetzt.
AP/Kyodo News
Projektion zu einem kollektiven Friedensgebet in Yokohama (Japan) am 10. Dezember 2004
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Die Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden zeigt von 26. Mai bis 26. August die Sonderschau „Die schönste Frau der Welt wird 500!“.
Vom Himmel in die Wüste
Die beiden nackten Buben mit ungekämmtem Haar und Stummelflügeln sind inzwischen Ikonen. Der Preis dafür ist allerdings, dass sich damit ihre Wahrnehmung verändert. Ihr Auszug aus dem Himmel Raffaels verwandelt sich in einen Gang in die kulturindustrielle Wüste. Denn im Zeitalter ihrer inflationären Reproduktion verlieren die zwei das, was sie einst auszeichnete und berühmt machte: ihre Aura.
Armin Sattler, ORF.at
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