Symbol der Unterdrückung
Es war nur die Spitze des Eisbergs: Im vergangen Monat kam es in der südindischen Unistadt Hyderabad zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, nachdem Hindu-Aktivisten eine Studentenparty angegriffen hatten. Es gab fünf Verletzte, zwei Autos wurden in Brand gesteckt. Aus europäischer Sicht wirkt der Grund bizarr: der Verzehr von Rindfleisch. In Indien ist dieser Konflikt aber alles andere als harmlos.
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Die Auseinandersetzungen nach einer „Rindfleisch-Party“ an der Osmania-Universität mussten von der Polizei unter Einsatz von Tränengas beendet werden - und es war nicht der erste Vorfall dieser Art. Immer wieder kommt es in Indien zu Gewalttaten zwischen strenggläubigen Hindus und Dalits, die früher auch als Kaste der Unberührbaren bezeichnet wurde.
Regelungen immer strenger
Obwohl das streng hierarchische Kastensystem offiziell schon lange der Vergangenheit angehört, werden Dalits als unterste Kaste immer noch diskriminiert. Und in ihrem Kampf um Anerkennung und mehr Rechte haben sich die Dalits ein Ziel erkoren, dass sie als Symbol ihrer Unterdrückung sehen - eben Rindfleisch. Die Kuh gilt im Hinduismus als heiliges Tier, Symbol für die Leben spendende Mutter Erde sind. Viele nennen sie auch Go Mata, Mutter Kuh. Dieser Stellenwert kommt freilich auch von pragmatischen Gründen. Die Tiere lieferten mit Milch die Grundnahrung, sie war wichtigstes Zugtier und ihr Dung Heizmaterial und Dünger.
Heute ist das freilich nur in den armen ländlichen Regionen so. Dennoch hat sich am Stellenwert der Kuh wenig geändert - im Gegenteil. In den vergangenen Jahren wurden die Regelungen zu Schutz auf Bundesstaatsebene auf Druck von nationalistischen Parteien wie der BJP verschärft. In mehreren Staaten ist das Schlachten von Kühen - genauso wie der Verkauf - mittlerweile verboten, die Strafen wurden drakonisch angehoben.
Tradition nur ein Konstrukt
Die Brahmanen, die oberste Kaste, berufen sich auf Jahrhunderte alte Traditionen. Doch die sind mitunter ein bewusstes Konstrukt: Der Rigveda, der älteste Teil der Sammlung religiöser Schriften im Hinduismus enthalte etliche Verweise auf die Zubereitung und auch Opferung von Rindfleisch, so der indische Historiker Dwijendra Narayan Jha. Für sein 2001 erschienenes Werk „Der Mythos der heiligen Kuh“ erhielt Jha Morddrohungen, ein Verbot des Buches wurde gefordert.
Jha wies nach, dass es bis ins 19. Jahrhundert durchaus üblich für Hindus war, Rindfleisch zu essen. Es sei zwar eher verpönt gewesen, aber jedenfalls keine Sünde. Erst mit dem reformistischen Gelehrten Dayananda Saraswati wurde der Schutz der Kuh aufgewertet, allerdings eher als strategisches Werkzeug, um sich stärker vom Islam und dem Christentum abzugrenzen.
Gandhis einigendes Symbol
Und vor allem im Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft sei die Verehrung von Kühen zum einigenden Moment einer politischen Massenbewegung geworden - geleitet von den höheren Kasten, heißt es in einem Kommentar in britischen „Independent“. Vor allem Mahatma Gandhi habe gepredigt, dass das Töten einer Kuh eine Sünde ist. Gandhi hatte übrigens gegen Tee genauso angeschrieben wie gegen Rindfleisch, dort allerdings mit weniger nachhaltigem Erfolg.
Die Kritiker verweisen wiederum auf den Dalit-Politiker und einen der Begründer der indischen Verfassung, Bhimrao Ramji Ambedkar. Er sah in der traditionellen Verehrung der Kuh vor allem den Versuch, den Brahmanismus über den Buddhismus zu stellen. Als Antwort darauf konvertierte er 1956 zum Buddhismus, Hunderttausende Dalits folgten seinem Beispiel.
Kühe über Menschen?
Eine der streitbarsten Verfechterinnen des heutigen Rindfleischgenusses ist die Dichterin, Feministin und Aktivistin Meena Kandasamy. In einem Kommentar in „Outlook India“ spricht sie von „Nahrungsfaschismus“, den es zu bekämpfen gelte. Niemand werde gezwungen, das Fleisch zu essen. "Ihre Heiligkeit Mutter Kuh ist ein Bürger erster Klasse mit Gesundheitsversicherung und Pensionsplan. Dalits, (die indigenen, Anm.) Adivasi, Muslime und Christen dürfen als Rindfleisch essende Minderheiten nicht diese Privilegien fordern.
Allerdings ist der Schutz der Kühe auch in der indischen Verfassung geregelt - wenn auch nicht aus offensichtlich religiösen Gründen. Doch nicht nur entlang von Religion und sozialer Stellung scheiden sich die Geister. In einigen Regionen Nordindiens ist der Verzehr von Rindfleisch durchaus üblich.
Und das Schlachtverbot wird teilweise sehr großzügig interpretiert: Indische Medien weisen aber darauf hin, dass die Regelung häufig schwammig ist, alte Tiere dürfen teilweise doch getötet werden. In anderen Bundesstaaten gibt es wiederum eigene Einsatztruppen zum Schutz von Kühen, in Delhi etwa werden Geschäfte genauestens kontrolliert, ob sie nicht doch Rindfleisch anbieten.
Enormer Wirtschaftsfaktor
Entgegen den offiziellen Bestimmungen blüht ein enormer Schwarzhandel: Geschätzte 1,5 Millionen Kühe werden jährlich aus Indien herausgeschmuggelt, berichtet CNN. Experten meinen, dass damit 50 Prozent des im Nachbarland konsumierten Rindfleischs gestellt werden. Während Kühe heilig sind, nimmt man es bei Büffel nicht ganz so ernst. Laut indischen Regierungsangaben produziert das Land pro Jahr 1,5 Millionen Tonnen Büffelfleisch, nur ein Viertel davon wird exportiert.
Doch auch offiziell boomt das Geschäft. Laut US-Schätzungen wird das Land noch heuer die USA als weltweit drittgrößter Rindfleisch-Exporteur ablösen - wobei Büffel dabei inkludiert sind. Bei einer prognostizierten Steigerungsrate von 25 Prozent von 2011 auf 2012 könnte Indien Schätzungen zufolge bald die Spitzenreiter Argentinien und Australien ablösen. Und die Rinder, die für die wichtige Lederindustrie verwendet werden, sterben im seltensten Fall von alleine an Altersschwäche.
Streunende Kühe als Problem
Bleibt schließlich auch die Tatsache, dass der Schutz der Kühe auch im Alltag zu einem immer größeren Problem geworden ist. Allein in der Hauptstadt Neu Delhi leben geschätzte 36.000 Kühe. Sie gehören oftmals zu illegalen Molkereien und werden von ihren Besitzern tagsüber freigelassen, um sich selber ihr Fressen zu suchen - das meist aus Müll besteht.
Vom Kampf ums Überleben ermüdet, lassen sich die Kühe oft mitten im chaotischen Verkehr der Millionenmetropole nieder - immer in der Gefahr, angefahren zu werden und elendig zu verenden. Gleichzeitig kommt es immer wieder zu schweren Unfällen, bei denen auch Menschen ihr Leben lassen müssen, weil die Fahrer Kühen ausweichen und dabei schwere Unfälle verursachen.
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