Zukunftsszenarien der Raumplanung
Immer mehr Menschen zieht es in die Wirtschaftsmetropolen. Auf absehbare Zeit wird dort der Bedarf an Infrastruktur deutlich ansteigen, während es gleichzeitig für die Bewohner immer enger wird. Speziell dort, wo sich Städte wegen ihrer geografischen Lage nicht unbegrenzt in die Breite ausdehnen können, wird ihre „Unterwelt“ wachsen müssen, zeigen sich Raumplaner überzeugt.
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In dieser „Deep City“ ziehen sich in Großstädten seit Jahrzehnten und länger Energie- und Wasserversorgung, Kanalisation, öffentlicher Verkehr und Telekommunikationsinfrastruktur durch riesige Labyrinthe. Mit zunehmendem Urbanisierungsgrad würden diese Systeme nun eher früher als später an ihre Grenzen geführt und weiter ausgebaut werden müssen, heißt es im Tagungsband zur internationalen Stadtplanungskonferenz REAL CORP 2012, die kommende Woche im niederösterreichischen Schwechat stattfindet. Gleichzeitig werde sich auch ein Teil des Alltags künftig unter die Erdoberfläche verlagern.
Konferenz in Schwechat
Die REAL CORP 2012 von 14. bis 16. Mai in Schwechat befasst sich unter dem Titel „Re-Mixing the City. Towards Sustainability and Resilience?“ mit den Herausforderungen, die Bevölkerungswachstum, sich veränderte Arbeitswelten und Lebensrhythmen an die Stadtplanung der Zukunft stellen.
Ein anschauliches historisches Beispiel ist etwa New York, wo sich bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts wirtschaftlicher Aufstieg und Entwicklung einer modernen Versorgungsinfrastruktur einen Wettlauf lieferten. Im New Yorker „Untergrund“ ist, wie eine Grafik des „National Geographic“ veranschaulicht, Ver- und Entsorgungsinfrastruktur mitsamt U-Bahn schichtweise in einer Tiefe von bis zu 70 Metern und mehr „verstaut“.
Die New York City Subway wurde 1904 in Betrieb genommen, mit dem Bau des städtischen Dampfheizungsnetzes war schon zuvor begonnen worden. Der Startschuss für das Mammutprojekt „City Water Tunnel No. 3“, eine dritte Leitung zur Sicherung der Wasserversorgung des „Big Apple“ mit fast 100 Kilometern Länge, fiel 1970. In Betrieb gehen wird der Tunnel kaum vor 2018.
Versorgungsnetze an der Kapazitätsgrenze
In zahlreichen Großstädten würden Versorgungssysteme in den kommenden Jahren an ihre Leistungsgrenzen stoßen, sind Experten überzeugt - und: Sie sind vielerorts auch ebenso alt wie in New York und daher störungsanfällig. Die New Yorker Wasserleitungen 1 und 2 etwa stammen aus den Jahren 1917 und 1935 und können erst instandgesetzt werden, sobald Nummer 3 in Betrieb ist. „Unsere städtischen Versorgungssysteme tropfen wie Siebe“, heißt es in einem Konferenzbeitrag der deutschen Stadtplaner Axel und Hermann Leistner. Längerfristig seien komplexe Versorgungstunnels („Utility Tunnels“), in denen Netze für Wasser, Elektrizität, Heizen, Strom, Telekommunikation etc. gebündelt sind, die Alternative.

AP/Gina LeVay, Courtesy of ClampArt
Der „City Water Tunnel No. 3“ wird kaum vor 2018 in Betrieb gehen. Die Baukosten belaufen sich auf knapp über drei Mrd. Euro
Diese seien zwar in der Errichtung eher teuer, gleichzeitig aber sehr langlebig und böten den Vorteil, dass sie - etwa für Reparaturen - einfach zugänglich seien. Angesichts der zunehmenden Belastung für die unterirdische Infrastruktur sei es für eine Bestandsaufnahme und Planung neuer, innovativer Kapazitäten höchste Zeit. Städte wie Stockholm, Amsterdam und Hongkong entsorgen etwa mittlerweile auch Teile ihres Mülls vollautomatisch über eine Art unterirdisches „Rohrpost“-System.
„Verstopfte urbane Zentren“
Nicht nur Ver- und Entsorgungsinfrastruktur, auch ein Teil des städtischen Lebens werde sich in Zukunft einige Etagen tiefer abspielen, ist Huanqing Li von der Schweizer Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) überzeugt. Den Grund sieht er ebenfalls im rasanten städtischen Bevölkerungswachstum, dessen Folge eine zunehmende „Überfrachtung“ vor allen der Stadtzentren mit Infrastruktur für Dienstleistungen und Verkehr sei.
Es wird eng in den Städten
Laut einem UNO-Bericht vom April leben in den hoch entwickelten Industrieländern bereits 78 Prozent der Menschen in Städten, 2050 werden es über 85 Prozent sein. In den Entwicklungs- und Schwellenländern wird der Anteil von 46 auf über 60 Prozent steigen. Insgesamt lebt bereits jeder zweite Erdbewohner in der Stadt, in vier Jahrzehnten werden es 67 Prozent sein.
Logische Konsequenz sei der Verlust von freien Flächen für Wohnen und Erholung. „Offensichtlich stoßen Städte an ihre ‚Wachstumsgrenzen‘ und brauchen innovative Entwicklungsstrategien und nachhaltige Erneuerung.“ Die Stadt unter der Stadt böte eine Möglichkeit, „verstopfte urbane Zentren“ zu entlasten. Li verweist in seinem CORP-Beitrag auf eine Modellrechnung, die am Beispiel Paris einen deutlichen Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte und unterirdisch verbautem Raumvolumen verweist: Je mehr Menschen sich im urbanen Lebensraum drängen, desto mehr Infrastruktur - vom Parkraum bis zu Geschäftsflächen - verschwindet unter der Erde.
Arbeiten und Shopping unter der Stadt
Modellbeispiele für Städte unter der Stadt sind etwa das „RESO“ bzw. „Ville interieure“ und der „PATH“ in den kanadischen Metropolen Montreal und Toronto, auch wenn diese dort nicht vorwiegend aus Platzgründen entstanden sind. Bei beiden handelt es sich um Systeme von kilometerlangen Tunneln, die Geschäfts- und Freizeitflächen miteinander bzw. mit dem öffentlichen Verkehrsnetz über Gehwege verbinden.

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Einkaufspassage in der „Ville interieure“ in Montreal
Mit dem Bau der „Ville interieure“ („Inneren Stadt“) wurde bereits 1962 begonnen. Die Bezeichnung „RESO“ lehnt sich phonetisch an das französische Wort „reseau“ („Netz“) an. Das Tunnelsystem hat eine Gesamtlänge von insgesamt rund 30 Kilometern. In Toronto sind durch die Untergrundstadt „PATH“ (engl. für „Weg“) gut 50 Gebäude miteinander verbunden. Auf über 370.000 Quadratmetern finden sich rund 1.200 Geschäfte und Dienstleistungsunternehmen, knapp 5.000 Menschen arbeiten im unterirdischen Toronto. Die ersten Tunnel wurden in Toronto bereits Anfang des vorigen Jahrhunderts gegraben. Die Idee dahinter war laut Stadtverwaltung ein „sicherer Hafen gegen die Kälte im Winter und die Hitze im Sommer“.
Wohnen im Bergwerk
Bauen in die Tiefe ist zwar technisch aufwendig und deshalb teuer, trotzdem reizt das Thema offensichtlich auch Architekten und Designer sehr. In der Nähe von Schanghai erfolgte erst vor kurzem der Spatenstich für ein Luxushotel in einer aufgelassenen Bergwerksgrube. Das Fünfsternehotel Intercontinental Shimao Shanghai Wonderland mit 380 Zimmern wird nach Entwürfen des britischen Designunternehmens Atkins 16 Etagen in die Tiefe gebaut. Der Eigentümer, die chinesische Shimao Property Group, steckt laut Plan knapp über 550 Mio. Dollar (über 420 Mio. Euro) in das Projekt.

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Die aufgelassene Mine - der Ort des künftigen Luxushotels

WS Atkins plc
Und so sieht das Rendering des Intercontinental Shimao Shanghai Wonderland aus
Die derzeit wohl ehrgeizigste Idee ist die des russischen Architekten Pavel Sipin für seine „Tundra City“ bzw. „Eco-City 2020“ in Udachny in Sibirien. Sipin und das russische Architekturbüro AB Elise wollen in einer rund 550 Meter tiefen aufgelassenen Diamantenmine Wohn- und Lebensraum für 100.000 Menschen schaffen - Platz für „Vertical Farming“ und unterirdische Parks zur Reinigung der Luft inklusive. Konkrete Umsetzungspläne dafür gibt es bisher allerdings noch keine.

AB ELIS ltd.
Wohn-, Erholungs- und Nutzflächen sollen terrassenförmig angeordnet werden
Grünland in der Straßenbahnremise
Etwas bescheidener mutet mit kalkulierten Kosten in zweistelliger Millionen(-Dollar)-Höhe der Plan an, im New Yorker Stadtteil Manhattan einen unterirdischen Park anzulegen. Als „Gegenpart“ zur populären „High Line“, einer zur Erholungsfläche umfunktionierten Hochbahntrasse, wollen ein Architekt und ein ehemaliger Ingenieur der US-Weltraumbehörde NASA mit der „Low Line“ eine 1948 aufgelassene Remise in Grünland verwandeln.
Dazu soll Sonnenlicht über Parabolspiegel und Glasfaserkabel unter die Erde geleitet werden. Dabei geht es dem Duo aber nicht nur um den Park an sich, sondern quasi um experimentelles „Recycling“ städtischer Infrastruktur mithilfe neuer Technologien, heißt es in der Projektbeschreibung. Wo Platz und Ressourcen knapper werden, müsse man sich eben auch über das Potenzial von „Überbleibseln“ seine Gedanken machen und „die Bedeutung von Raum neu erfinden - und zwar über und unter der Erde“.
Georg Krammer, ORF.at
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