EU-Beitritt und Kosovo weiter heikel
Am Sonntag wird die gesamte politische Landschaft in Serbien neu gewählt: ein neues Parlament, ein Präsident, die Gemeinden und das Parlament der autonomen Provinz Vojvodina. Der amtierende Staatspräsident Boris Tadic machte erst vor wenigen Wochen mit seinem Rücktritt den Weg für die Präsidentenwahl frei.
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Tadic, der als populärster Politiker im Land gilt, wollte dadurch offenbar seiner durch die Wirtschaftsmisere und ungelöste Korruptionsaffären angeschlagenen Partei bei der Parlamentswahl helfen. In den Umfragen zeichnet sich nun ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der sozialdemokratisch orientierten Demokratischen Partei (DS) von Tadic und der Serbischen Fortschrittspartei, die Mitte rechts stehende SNS, unter Führung von Tomislav Nikolic, ab. Nikolic, früherer Ultranationalist und Informationsminister unter Ex-Präsident Slobodan Milosevic, liegt auch im Rennen gegen Tadic um das Präsidentenamt nahezu gleichauf.

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Wahlwerbung mit Ivica Dacic in Belgrad
Wer künftig die serbische Regierung stellt, darüber könnte nicht zuletzt der derzeitige Innenminister und Vorsitzender der Sozialistischen Partei (SPS), Ivica Dacic, entscheiden. Der frühere Parteisprecher der SPS, der die aggressive Kriegspolitik Milosevics verteidigte, ist Königsmacher für die neue Regierung sowie für den nächsten Präsidenten, ist der Serbien-Experte bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Dusan Reljic, im ORF.at-Interview überzeugt.
Dacic: „Stimmen nicht vergeuden“
Erst vor wenigen Tagen forderte Dacic die Bevölkerung dazu auf, ihre Stimmen nicht für DS und SNS zu vergeuden. Denn diese könnten ohnehin keine Regierung ohne die Sozialistische Partei bilden: „Warum für sie stimmen, wenn Sie uns unterstützen können, die entscheiden, wer in Serbien regieren wird?“, wird Dacic von der serbischen Presseagentur Tanjug zitiert. In den Umfragen werden der SPS große Zugewinne vorausgesagt. Dacic könnte bei rund zwölf Prozent liegen.
Der langjährige Sprecher von Milosevic könnte sogar Regierungschef werden. Die Sozialistische Partei war nach dem Sturz von Milosevic in eine Krise geraten. Der Parteifunktionär unter Milosevic hätten es verstanden, sich abzugrenzen, analysierte Reljic: „Er hat zwar die Politik der Partei verteidigt, aber mittlerweile schaffte es die SPS, ein neues Publikum anzuziehen.“ Er gab der Partei einen neuen Anstrich. Mit ihm als Innenminister ist die SPS schon derzeit in der Regierung vertreten.
EU und Kosovo im Wahlkampf
In der Kosovo-Frage spricht sich Dacic deutlich für eine Teilung aus. Er warnte in seinem Statement davor, dass die EU Serbien zwingen werden, das Kosovo Schritt für Schritt aufzugeben. Tadic und Nikolic müssten beide klarstellen, wo Serbiens Grenzen seien. Völlig ablehnen kann Dacic einen EU-Beitritt Serbiens zumindest offiziell aber auch nicht.

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Am Sonntag wird nicht nur das Parlament, sondern auch der Präsident gewählt
Der EU-Beitritt und das Kosovo sind am Rande Thema im Wahlkampf. Während Tadic eindeutig zu den EU-Befürwortern zählt, wandelte sich der frühere Ultranationalist und Informationsminister unter Milosevic, Nikolic, zuvor noch geschäftsführender Vorsitzender Serbischen Radikalen Partei (SRS) mit Anti-EU-Einstellung, erst vor drei Jahren mit der Gründung der SNS von einer ultranationalistischen Anti-EU-Position zu einem bekennenden EU-Befürworter - mehr dazu in oe1.ORF.at. Sowohl Tadic als auch Nikolic werben damit, dass sich mit einem EU-Beitritt auch die wirtschaftliche Situation Serbiens verbessern würde.
Die Rechts-außen-Parteien wehren sich hingegen vehement gegen einen EU-Beitritt. Sowohl die radikale SRS von Vojislav Seselj, Häftling des Haager Tribunals, als auch die Demokratische Partei Serbiens (DSS) unter Führung des ehemaligen Präsidenten Vojislav Kostunica wettern gegen einen EU-Beitritt, da dadurch der völkerrechtliche Anspruch auf das Kosovo aufgegeben werden müsse.
680.000 unter der Armutsgrenze
Entscheidend für die Wahl sind die wirtschaftlichen Probleme Serbiens. Maximal ein Fünftel aller Unternehmen zahlt Gehälter fristgerecht, schreibt Reljic in einem SWP-Beitrag. Die Arbeitslosigkeit liegt zwischen 23 und 25 Prozent. Die Hälfte der unter 24-Jährigen ist arbeitslos. 680.000 Menschen leben unter der Armutsgrenze.

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Die Liberaldemokraten könnten Tadic’ Partei wieder an die Regierung bringen
Reljic: „Die Menschen haben resigniert und sind verzweifelt. Das Wirtschaftswachstum ist gering. Bei diesen schlechten Aussichten sind Tadic und Dacic bekannte Größen.“ Nikolic hingegen haben „noch keinen Beweis für Wirtschaftskompetenz geliefert“. „Das ist aber die Schlüsselfrage“, betonte der Serbien-Experte. Bei der SNS könne man nicht fassen, wo sie programmatisch steht. Die Altlast, die Nikolic noch aus seiner Milosevic-Zeit trägt, sei noch nicht abgetragen. Dennoch gebe es viele Protestwähler, die sich der bisher oppositionellen Fortschrittspartei zuwenden könnten.
Demokraten bessere Koalitionspartner
Es ist daher unsicher, ob die regierende Demokratische Partei weiterhin stimmenstärkste Partei bleiben wird. Belgrader Analysten rechnen Tadic’ Demokraten jedenfalls bessere Chancen aus, auch wenn sie weniger Stimmen als ihre Herausforderer bekommen sollten, da sie ein größeres Koalitionspotenzial hätten. Denn nicht nur Dacic’ Sozialisten, auch die oppositionellen pro-europäischen Liberaldemokraten (LDP) unter Cedomir Jovanovic könnten die DS wieder an die Regierung bringen.
Utopische Wahlversprechen
Glaubt man jedenfalls den Wahlkampfversprechen, „könnten uns auch die Schweizer beneiden“, kommentierte ein Karikaturist einer Tageszeitung. So ist die DS laut Wahlprogramm überzeugt, dass Serbien die EU-Beitrittsverhandlungen bereits in fünf Jahren absolvieren könne. Eine Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo - eine Voraussetzung für den EU-Beitritt - ist aber nicht in Sicht. Nikolic wiederum will in den nächsten zehn Jahren 100 Mrd. Euro ausländische Investitionen nach Serbien bringen. Im vergangenen Jahr wurden 1,8 Mrd. Euro aus dem Ausland in Serbien investiert.
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