Der „Erbe des revolutionären Terrors“
Zum Ende des französischen Präsidentschaftswahlkampfs gibt es nur einen klaren Gewinner: Jean-Luc Melenchon bekommt immer mehr Zulauf, während umgekehrt die Umfragewerte für alle anderen Kandidaten die Unzufriedenheit der Wähler widerspiegeln. Schon gibt es Spekulationen, der am äußeren linken Rand positionierte Philosoph könnte es bis zur entscheidenden zweiten Wahlrunde schaffen.
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Schon jetzt hat Melenchon auf jeden Fall geschafft, was ihm vor wenigen Wochen niemand zugetraut hätte: Er konnte in einigen Umfragen die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen auf den vierten Platz in der Wählergunst verweisen und sich damit zum „Dritten Mann“ im Duell zwischen Präsident Nicolas Sarkozy und dessen sozialistischem Herausforderer Francois Hollande machen. Laut demografischen Analysen sind sogar schon viele vormalige Le-Pen-Anhänger zum beinahe linksradikalen Melenchon umgeschwenkt.
Tiraden gegen die „Gierigen“
Melenchon liegt nunmehr laut übereinstimmenden Umfragen de facto gleichauf mit Le Pen bei 14 bzw. 15 Prozent. Anfang März lag Melenchon noch bei 8,5 Prozent und selbst wohlmeinendste Beobachter meinten zu dem Zeitpunkt, er könne nie über zehn Prozent Zuspruch bekommen. Wenn man nur Melenchons Positionen und Forderungen bedenkt, war diese Einschätzung wohl auch richtig. Die Frustration der Wähler über Sarkozy und Hollande wiegt aber offenbar schwerer.

Reuters/Gonzalo Fuentes
Melenchon im Wahlkampf
Nicht umsonst verfällt etwa die französische Wirtschaftsvereinigung MEDEF in einen geradezu hysterischen Tonfall, wenn es um Melenchon geht und sieht diesen als „Erbe des revolutionären Terrors“ von 1793 mit seinen blindwütigen Massenguillotinierungen. Melenchon fordert unter anderem die Verstaatlichung aller Banken, einen Mindestlohn von 1.700 Euro und umgekehrt die komplette Enteignung aller Lohnteile jenseits von 30.000 Euro und ruft zum „Bürgeraufstand“ gegen die „Gier“ auf, um das durchzusetzen. Dazu kommen Tiraden gegen die EU und die USA.
Einen Deut geschickter als die Konkurrenz
Zusätzlich zu den markigen Sprüchen macht der ehemalige Lehrer einiges einfach geschickter als seine Gegner. Im Unterschied zu deren ebenso simpel wie langweilig gestrickten Webauftritten verkauft Melenchon seine Wahlkampfsite etwa als persönliches Internetblog. Gerade von Hollande unterscheidet er sich vor allem durch leicht verständliche und wegen ihrer Prägnanz haften bleibende Aussagen. Außerdem wirkt Melenchon auf die meisten Wähler authentischer, da er seine Ecken und Kanten nicht zu verbergen sucht.
Erinnerungen an 2002
Sarkozys Partei UMP hofft, von Melenchons Erfolg indirekt profitieren zu können. Gegen dessen Aussagen verblasst Hollandes Wahlkampf zusehends. Schon mehrmals hat Hollande seine eigenen Positionen in Richtung Melenchon revidieren müssen, um nicht noch mehr Boden zu verlieren. Hollandes Partei PS wiederum sieht im Zulauf zu Melenchon den Beweis dafür, dass es derzeit eine linke Mehrheit gibt und Melenchon-Wähler in der zweiten Wahlrunde, wenn nur noch zwei Kandidaten - und damit vermutlich Sarkozy und Hollande - zur Auswahl stehen, Hollande ihre Stimme geben werden.
Weder bei der UMP noch bei der PS will die Wählermobilisierung allerdings so recht gelingen. Ein Viertel der Wähler überlegt, am Wahltag daheimzubleiben. Diese Stimmung schadet etablierten Politikern. Nicht wenige fühlen sich an das Jahr 2002 erinnert, als die Entscheidung zwischen Jacques Chirac und Lionel Jospin anstand - und am Ende Jean-Marie Le Pen zu Chiracs Gegner in der Stichwahl wurde. Le Pen bekam damals im ersten Wahlgang 17 Prozent und verwies Jospin damit auf den dritten Platz. Umfragen hatten ihn davor bestenfalls bei zehn Prozent gesehen.
Lukas Zimmer, ORF.at
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