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Bis heute keine Entschuldigung

Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: In Indochina und Nordafrika zerfällt das Kolonialreich, die Völker fordern von Paris die Unabhängigkeit. In Algerien tobt der Kampf besonders bitter - knapp eine Million französischer Siedler leben zu der Zeit in dem nordafrikanischen Land, rund 400.000 Soldaten sollen sie beschützen.

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Für die Franzosen ist Algerien keine Kolonie wie jede andere: Es ist integraler Bestandteil des Heimatlandes. Die brutale Unterdrückung des Ende 1954 begonnenen Aufstands führt nicht zuletzt daher auch in Paris zu schweren gesellschaftlichen Verwerfungen - und zur Gründung der V. Republik unter General Charles de Gaulle.

Nach wie vor nationales Trauma

Mehr als sieben Jahre dauerte der Krieg mit Hunderttausenden Toten, mehr als einer Million Vertriebenen und unvorstellbaren Grausamkeiten, ehe ihn am 18. März 1962 ein Abkommen im Kurort Evian am Genfer See beendete. Zehntausende junge Franzosen kehrten traumatisiert vom Militärdienst aus einem Krieg heim, der offiziell gar nicht so genannt werden durfte.

Es dauerte Jahrzehnte, bis Präsident Jacques Chirac 1999 den Konflikt endlich als Krieg bezeichnete. Auch heute noch ist er ein nationales Trauma. Auf beiden Seiten des Mittelmeers ist er Teil des kollektiven Gedächtnisses - und verhindert eine echte Aussöhnung.

„Nie verheilte Wunden“

Die Beziehungen Frankreichs zu Algerien - dem einzigen nordafrikanischen Land, das bisher nicht vom „arabischen Frühling“ erfasst wurde - sind weiter heikel. „Diese nie verheilten Wunden erklären zum Teil auch die Empfehlung, keine offiziellen Gedächtnisfeiern für das Waffenstillstandsabkommen von Evian zu halten“, vermutet die Pariser Zeitung „Le Journal du Dimanche“.

Mitten im Präsidentenwahlkampf kommt der Algerien-Krieg in Frankreichs Medien wieder hoch - sie widmen ihm ganze Serien. Historiker ziehen vor dem 50. Jahrestag Vergleiche zu Südafrikas Apartheidsystem und fragen sich, warum es in Algerien keine aussöhnende Lichtgestalt wie Nelson Mandela gegeben habe.

Umstrittenes Waffenstillstandsabkommen

Das Evian-Abkommen war zunächst ein Waffenstillstandsabkommen, das aber nach einer Übergangsfrist auch die schließlich am 3. Juli 1962 verkündete Unabhängigkeit des nordafrikanischen Landes vorsah. Es sicherte Frankreich nach mehr als 130 Jahren Kolonialherrschaft zunächst auch Zugang zu Algeriens Erdölreserven und übergangsweise das Verfügungsrecht über die Militäranlagen in Reggane in der Sahara. Dort testete Frankreich Raketen und Atombomben.

Das Abkommen war nicht unumstritten. Ein Teil des in Algerien stationierten Offizierskorps hatte eine Art Dolchstoßlegende entwickelt, die der Pariser Regierung wegen ihrer vermeintlich zu nachsichtigen Haltung die Schuld an der Misere gab. Die demütigende Niederlage der französischen Armee in Indochina bei Dien Bien Phu war unvergessen. Das Militär suchte die französische Herrschaft in Algerien daher mit allen Mitteln - auch systematischer Folter - zu verteidigen. Es schreckte selbst vor einem Putschversuch und Attentaten nicht zurück.

Massenexodus der „Schwarzfüße“

„Algerien ist Frankreich. (...) Wir werden allen entgegentreten, die die Ruhe stören und der Sezession den Boden bereiten wollen“, hatte Innenminister Francois Mitterrand vor dem Abkommen in der Nationalversammlung verkündet. In Evian war das vergessen. Was wenig später folgte, war die Enteignung der französischen Siedler und Unternehmen in Algerien - ein Massenexodus der Algerien-Franzosen folgte. Sie waren Entfremdete in der eigenen Heimat.

Noch heute ist Frankreich durch die Nachfahren der „Pied-noirs“ („Schwarzfüße“) genannten Siedler geprägt, die zusammen mit vielen der damals in französischen Diensten stehenden Algerier übers Mittelmeer flohen. Sie wollen in mehreren Städten des Landes des Jahrestags gedenken.

„Es gibt nichts zu feiern“

Algerien wartet bis heute auf eine Entschuldigung der ehemaligen Kolonialmacht und verweigert deswegen bis heute Frankreich einen Freundschaftsvertrag. An Evian erinnern, mag man aber nicht. „Die Wahrheit ist: Man hat versucht, Evian zu vergessen“, sagt Redha Malek, einer der damaligen algerischen Teilnehmer am Treffen der Konfliktparteien in Evian.

Selbst sein damaliger französischer Gegenspieler Constantin Melnik stimmt ihm zu. In einem Zeitungsinterview betonte er: „Es gibt nichts zu feiern!“ Man hätte früher mit Verhandlungen starten sollen, um einen derart unnützen Krieg zu beenden. „Meiner Meinung nach ist es noch nicht zu spät, um sich bei Algerien zu entschuldigen“, meint er. „Aber das wird nie geschehen.“

Ralf E. Krüger, dpa

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