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„Status quo kann nicht erhalten bleiben“

Dass Wladimir Putin am Sonntag bei der Präsidentschaftswahl die meisten Stimmen erhält, daran zweifelt kaum jemand. Staatliche Meinungsforschungsinstitute rechnen sogar mit einem Sieg im ersten Wahlgang. Eine Stichwahl könnte das Land weiter destabilisieren, warnte Putin immer wieder.

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Die regierungsunabhängige russische Wahlbeobachterorganisation Golos dokumentierte auf einer „Karte der Wahlverstöße“, auf der Einzelpersonen beobachtete Unregelmäßigkeiten im Internet eintragen können, bereits im Vorfeld der Wahl mehr als 1.200 Unregelmäßigkeiten. In mehr als 500 Fällen beklagen Einzelpersonen, dass Druck auf sie hinsichtlich der Wahl ausgeübt worden sei.

Keine Angst vor Konkurrenten

Sollte Putin im ersten Durchgang die absolute Mehrheit erhalten, würde er ein Signal senden: „Ich bin stark, ich bin ein Zar“, analysiert der Politologe Nikolai Petrow vom Moskauer Carnegie Center. Putin müsse verhandeln, zustimmen, Kompromisse schließen: „Dazu ist er aber nicht fähig. Putin ist kein Zar, er ist schwach“, sagt Petrow. Er glaubt, dass Putin in zwei Jahren weg sein wird. Auch der bulgarische Politologe Ivan Krastev prognostiziert Veränderungen: „Der Status quo kann nicht mehr lange erhalten bleiben.“

Putin geht  bei einer Wahlveranstaltung vor seinen Anhängern vorbei

APA/EPA/Government Press Service/Alexey Druzhinyn

Putin bei einer Wahlkampfveranstaltung im Luschniki-Stadion in Moskau

Angst vor Konkurrenz muss Putin auch diesmal nicht haben. Seinen Gegenkandidaten werden nicht einmal Außenseiterchancen eingeräumt. Sie vermeiden selbst direkte politische Angriffe und Kampfansagen gegen Putin. Der Multimilliardär Michail Prochorow muss stets dementieren, eine Marionette des Kreml zu sein. Kommunistenchef Gennadi Sjuganow, der Ultranationalist Wladimir Schirinowski und der Linkskonservative Sergej Mironow haben bereits in früheren Wahlen verloren.

Die Zeiten von Putin als „Zar“ sind aber vorbei, sind sich Beobachter einig. Die derzeitigen Bedingungen hätten sich im Vergleich zu seinen vorigen Amtszeiten als Präsident geändert. Zigtausende Menschen sind in den vergangenen Monaten bei Demonstrationen gegen Putin auf die Straße gegangen. Selbst wenn der Protest abflaut: „Die Mittelschicht, die ihn trägt, kann nicht ignoriert werden“, ist Russland-Experte Hans Henning Schröder von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gegenüber der „Frankfurter Rundschau“ überzeugt.

Rückhalt schwindet

Während Putin in der Provinz, die nahezu ausschließlich über das gelenkte Staatsfernsehen informiert wird, noch auf - schwindenden - Rückhalt zählen kann, wendet sich die in den Städten konzentrierte Mittelschicht zusehends von Putin ab. Experten schätzen den selbstbewusster auftretenden Mittelstand auf 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung.

Demonstranten stehen Sicherheitskräften gegenüber

Reuters/Tatyana Makeyeva

Tausende Demonstranten gingen sogar bei enormen Minusgraden auf die Straße

Es handle sich um ein vollkommen neues Phänomen, sagt der Russland-Experte Alexander Rahr von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik: „Der Mittelstand wird politisch aktiv.“ Problematisch sei auch, so Schröder, dass sich die Oligarchen bereits von Putin abgewandt hätten. Im vergangenen Jahr habe es einen Nettokapitalabfluss aus Russland wie in der gesamten Putin-Zeit zuvor nicht gegeben.

„Schlacht um Russland geht weiter“

Mit den Versprechen der Stabilität und Modernisierung konnte Putin im letzten Jahrzehnt noch punkten und kontert damit auch jegliche Kritik an seinem System. Zudem mobilisierte er mit patriotischen Tönen und gegen die angebliche Bedrohung von Feinden im In- und Ausland. Darauf konzentrierte er sich auch bei diesem Wahlkampf: „Die Schlacht um Russland geht weiter.“

Russischer Präsident

Der Präsident wird - erstmals für sechs Jahre - vom Volk gewählt. Er hat den Oberbefehl über die Streitkräfte. Der Präsident bestimmt die Ausrichtung der Innen- und Außenpolitik. Auch die Schlüsselressorts Verteidigung und Justiz sind ihm untergeordnet.

Die bisherige Politik basierte auf den Gewinnen aus dem Öl- und Gasgeschäft. Es werde schwierig, diesen russischen Sozialstaat auf Dauer zu finanzieren und die Wahlversprechen wie Lohn- und Pensionserhöhungen langfristig umzusetzen. „Die Figur des gerechten Zaren hat sich überlebt“, sagt Schröder. „Er (Putin, Anm.) verfügt noch über Mechanismen, das richtige Ergebnis zu erzielen. Aber die letzte Parlamentswahl hat deutlich gemacht, dass das alte Arrangement, das ihn die ersten zehn Jahre seiner Amtszeit getragen hat, nicht mehr funktioniert.“

Risse im System Putin

Mit den Fälschungsvorwürfen nach der Parlamentswahl Anfang Dezember vergangenen Jahres bekam das System Putin Risse. Gouverneure, in deren Region Putins Partei Geeintes Russland nicht genügend Stimmen erhalten hatte, wurden entlassen, so der Russland-Experte Petrow. Unmut war aber bereits aufgekommen, als Putin und der amtierende Präsident Dimitri Medwedew im September vergangenen Jahres ihren geplanten Tausch der Ämter offiziell machten.

Auf die Unzufriedenheit, die sich in Massenprotesten entlud, reagierte Putin mit eigenen Demonstrationen - für ihn. Immer wieder gab es Vorwürfe, dass Teilnehmer der Pro-Putin-Kundgebungen bezahlt wurden, um für Putin auf die Straße zu gehen. Der bisherige Regierungschef sprach aber immer von „Einzelfällen“.

Doch Arbeitgeber sollen Mitarbeiter zwingen, für Putin zu stimmen. Zugleich klagen regierungskritische Medien über einen nie da gewesenen Druck von Behörden. Der Präsident der Teilrepublik Tatarstan, Rustam Minnichanow, sprach die Linie gegenüber den Medien ganz offen aus: „Mir wäre es peinlich, wenn nicht wir alle für Putin stimmen würden. Russland braucht einen Zaren.“

Antritt 2018 „wäre normal“

Einige Kritiker deuteten bereits an, Proteste auch nach der Wahl fortsetzen zu wollen. Unklar ist, wie Putin reagiert - mit Reformen oder mit Härte. Am Freitag betonte er, dass er auch im Falle eines Wahlsiegs allfällige Proteste in Russland nicht niederschlagen und auch die Zügel der Macht nicht anziehen werde: „Was sind denn das für Ängste, wo wir doch genau das Gegenteil tun?“, fragte er.

Putin kommt jedenfalls um gewisse liberale Reformen nicht herum, ist Rahr überzeugt. An der Macht will er aber offenbar festhalten. Noch kurz vor der Wahl am Sonntag schloss Putin Präsidentschaftsambitionen bis 2024 nicht aus. Ein Antritt 2018 „wäre normal, wenn alles gut läuft, wenn das den Leuten gefällt“.

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