Wenn Bücher wahr werden
In seinem neuen Buch „Wenn das Schlachten vorbei ist“ schreibt der 63-jährige kalifornische Schriftsteller T. C. Boyle über Artenschutz auf Inseln - und holt dabei weit aus. Im Interview mit ORF.at spricht er über Gegenkulturen und über die Bedeutung von Umweltschutz für die Gesellschaft. Mit Anekdoten belegt er zudem, dass seine Bücher manchmal wahr werden.
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ORF.at: In Ihrem aktuellen Buch „Wenn das Schlachten vorbei ist“ sterben viele, wirklich viele Menschen im Wasser. Sie leben ja an der Küste. Macht Ihnen das Meer Angst?
T. C. Boyle: (lacht) Ich liebe das Wasser. Ich bin ein echter Wassermensch. Ich fahre mit dem Kajak raus, ich gehe Boogie-Boarden, ich schnorchle, ich besitze sogar einen Schwimmanzug. Aber ich habe auch einen großen Respekt vor dem Ozean. Ich weiß, wie schnell sich die Bedingungen im Wasser mitunter verändern. Man kann es in meinem Buch nachlesen: Der Kanal, an dem ich lebe, kann äußerst gefährlich werden.
ORF.at: Sind die Wasserleichen auch ein Symbol dafür, dass die Natur gegen die Menschheit zurückschlägt?
Boyle: Ja, ich glaube schon. Wenn man sich mein Gesamtwerk anschaut, sieht man: Ich habe mich schon immer mit der Natur auseinandergesetzt. Die Geschichte, die dem Buch zugrunde liegt, ist zudem wahr. Sie hat sich hier direkt vor meinem Fenster abgespielt. Es geht darin um grundsätzliche Fragen. Soll man Naturparks errichten? Soll man Natur besitzen können? Soll man biologische Prozesse beeinflussen? Über all das habe ich lange und viel nachgedacht. Wenn man die vielen Wasserleichen in Erwägung zieht, die Sie erwähnt haben, lautet die Antwort auf all diese Fragen ganz klar: „Nein.“ (lacht)
ORF.at: Bei Ihnen sind Tierrechts- und Umweltfragen schon immer angesprochen worden. Aber ist in den letzten Jahren so etwas wie eine regelrechte Umweltbewegung unter Schriftstellern entstanden? Ich denke etwa an Jonathan Safran Foers „Tiere essen“ und Ian McEwans „Solar“.
Boyle: Ich weiß nicht recht. Ich bin froh, dass sich jetzt viele Autoren diesem Thema widmen. Es ist schließlich das wichtigste Thema, mit dem wir uns heute überhaupt beschäftigen können. Es gilt, die noch übriggebliebenen Arten zu retten und die Umwelt zu schützen, wo auch immer es möglich ist. In meinem Buch gehe ich allerdings weiter in die Tiefe - es geht um die Frage nach der Existenz an sich: Warum sind wir hier?
Schon 1979 habe ich mich in meinem ersten Buch mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Das war ein Kurzgeschichtenband, den ich nach Darwin benannt habe - „The Descent of Man“. Ich bin an diesen Fragen wirklich schon lange dran. Ob das andere interessiert oder nicht? Ich glaube schon. Und wie gesagt: Es freut mich, dass auch andere Autoren über diese Themen schreiben.
ORF.at: Mit Ihrem Buch liefern sie kein Schwarz-Weiß-Bild ab. Viele freut, dass Sie der Komplexität der Thematik rund um den Wert von Leben gerecht werden. Andere werden sagen: Was jetzt - gibt er den radikalen Tierschützern oder den staatlich unterstützten recht? Sollen Tiere getötet werden, damit andere geschützt werden, oder ist das unethisch?
Boyle: Ich habe natürlich eine Meinung dazu, aber die sage ich Ihnen nicht. Ein Buch muss für sich selbst stehen. Ich schreibe Fiction, anders als Jonathan (Safran Foer, Anm.) mit „Tiere Essen“. Fiktion ist subtiler, sie ermöglicht es, tiefer gehende Standpunkte von Antagonisten zu einem Thema auszuarbeiten. Man lädt den Leser dazu ein, sich auf beide Standpunkte einzulassen und dann für sich selbst zu entscheiden. Das ist der Vorteil von Kunst. Ich beantworte nie Fragen nach der Interpretation meiner Texte. Das zerstört das Leseerlebnis für alle, die vorher den Artikel gelesen haben. Es schließt den Leser dann vom Buch aus.
Oft wurde das Buch mit „America“ verglichen, in dem es um Migration in Südkalifornien geht. Da haben mich am Ende auch Vertreter beider unterschiedlicher Lager, die es zu dem Thema gibt, als Advokaten für ihre Sache empfunden. Und ich - ich behalte meine Meinung für mich.
ORF.at: „America“ liest sich heute noch genauso aktuell wie vor 17 Jahren.
Boyle: Es ist traurig, dass das Thema in der westlichen Gesellschaft immer noch diskutiert werden muss. Im Grunde ist auch die Migration ein Umweltthema, schließlich geht es dabei um eine Spezies - die Spezies Mensch. In Wahrheit gibt es auch in diesem Feld unlösbare Fragen.
ORF.at: Man hat das Gefühl, dass es in den 90er Jahren weniger opportun war, explizit engagierte Bücher zu politischen Themen zu schreiben. Es galt als zu wenig hip, zu undistanziert, zu wenig postmodern. Warum hat sich das geändert?
Boyle: Ich denke nicht in Trends. Ich finde es immer schwierig, Trends auszumachen oder einen Künstler einem solchen Trend zuzuordnen. Ich sehe da jeden als Individuum. Aber es stimmt schon - ich bin gegen den Strom geschwommen und habe mich während meiner gesamten Karriere sozialen Themen gewidmet. Viele meiner Zeitgenossen haben es anders gehalten - aber ich verdamme sie deshalb nicht. Wir können uns als Künstler immer nur dem widmen, was uns am meisten interessiert, worüber wir uns Gedanken machen. Bei mir waren das immer soziale Themen und Umweltthemen. Wo kommt das menschliche Leben her? Wozu gibt es dieses Leben?
ORF.at: Weil das Thema in „Wenn das Schlachten vorbei ist“ angerissen wird: Sind Sie Vegetarier?
Boyle: Vegetarier zu sein ist eine persönliche Entscheidung, ich will da niemanden bekehren. Als jemand, der in New York aufgewachsen ist und sich um überhaupt nichts geschert hat, habe ich immer gegessen, was man vor mich hingestellt hat. Heute bin ich ein Beinahe-Vegetarier, aber kein fanatischer, und ich predige nicht. Sie kennen vielleicht meine Kurzgeschichte „Carnal Knowledge“ aus den 80er Jahren, in der ich mich mit radikalen Tierschützern auseinandergesetzt habe, die Tiere befreien.
Ich habe schon lange bevor ich „Wenn das Schlachten vorbei ist“ zu schreiben begann, über all das nachgedacht. Ich habe in letzter Zeit viel von dem gelesen, was die Tierschutzorganisation PETA an Informationen zur Verfügung stellt. Es ist erschreckend. Ich weiß nicht, ob das in Österreich und Deutschland auch so ist, aber in den USA werden Tiere wie in Warenhausregalen gehalten, sie sind nicht mehr als Fleischmaschinen. Es wird ihnen keine Art von Leben zugestanden. Diese Praxis ist grausam und weit von allem entfernt, was jemand einer anderen Kreatur antun dürfen sollte.
Bevor wir alle in Städten gelebt haben, gab es Bauernhöfe. Es gab Schweine, die lebten mit anderen Schweinen zusammen, ein „schweinisches“ Leben. Das war etwas völlig anderes. So, wie Tierhaltung heute betrieben wird, ist das hingegen Folter. Und dagegen trete ich ein. Die Realität kommt oft einem Science-Fiction-Horrorroman gleich.
Aber lassen Sie mich auch eine schöne Schweinegeschichte erzählen. Als ich in Iowa einen Kurs für kreatives Schreiben besuchte, war ich davor noch nie auf einem Bauernhof - ich kam ja aus New York. Gleich in der ersten Woche habe ich ein paar Hippies kennengelernt, die sich einen Bauernhof gemietet hatten. Ich war eines Tages mit einem Freund dort draußen. Wir waren stoned und sind herumspaziert und haben die Natur genossen.
Irgendwann sind wir mitten in einem Feld in der Sonne eingeschlafen. Aufgeweckt wurden wir dann beide von gut einhundert kleinen Schweinchen, die um uns herumgelaufen sind und uns mit ihren beweglichen Rüsseln angestupst haben; ein sehr körperliches Erlebnis (lacht). Die Schweine sind da einfach so im Freien herumgelaufen. Das war großartig. Später sind die dann schon getötet worden, aber zumindest durften sie davor ein „schweinisches“ Leben leben.
ORF.at: Wenn wir über Hippies sprechen - Sie schreiben oft über Musik, auch in „Wenn das Schlachten vorbei ist“. Es geht um einen Musiker namens „Micah Stroud“. Gibt es den wirklich? Im Netz findet man nichts über ihn?
Boyle: Nein, er ist erfunden. Viele Leute fragen mich das, und ich bin froh darüber. Es bedeutet, dass ich viele Leser davon überzeugen konnte, dass er echt ist. Es hätte ja sein können, dass er plötzlich wirklich erscheint und die Songs spielt, die ich ihm zugeordnet habe. Ich glaube aber nicht, dass das passiert.
ORF.at: Es gibt auf Facebook jemanden, der so heißt, aber der interessiert sich für Hip-Hop.
Boyle: Der Spaß, wenn man Welten erfindet, ist ja, dass sich manchmal etwas als wahr erweist. In „Wenn das Schlachten vorbei ist“ gibt es etwa die Figur der Alma Takesue, zu der mich eine Umweltschützerin inspiriert hat, die es auf diesen Inseln wirklich gibt. Irgendwann war mir klar, dass Alma schwanger werden musste. Und drei Monate später wurde die reale Person hinter Alma, obwohl sie vierzig Jahre alt ist, schwanger. (lacht)
Aber das ist nicht alles. Ein befreundeter Regisseur, Joshua Leonard, hat meine Kurzgeschichte „The Lie“ verfilmt und mich zu einer Vorführung eingeladen, nach der ich vor dem Publikum sprach. Danach kam ein Mann auf mich zu und sagte: „Ich bin Dave LaJoy, der Aktivist aus ‚Wenn das Schlachten vorbei ist‘.“ Ich hatte die Figur Zeitungsberichten über einen Aktivisten nachempfunden, der tatsächlich auf den Inseln für Tierrechte gekämpft hat. Es war großartig. Er hatte kein Problem mit meinem Buch und damit, zu einer fiktionalen Figur geworden zu sein.
Obwohl ich Dave zu einer sehr wütenden, unsympathischen Figur gemacht habe, kann man seine Prinzipien nachvollziehen, vor allem „Du sollst nicht töten.“ Dem kann man nicht widersprechen. Der reale Aktivist hat sich gefreut, dass ich von ihm und seinen Taten zu der Figur inspiriert wurde.
ORF.at: Vielleicht haben Sie seine boshafte Seite gezeigt, die er sich nie auszuleben traut?
Boyle: (lacht) Ja, vielleicht. Jedenfalls ist die Realität eine Grundlage, aber dann bekommt die Geschichte ihre Eigendynamik und entwickelt sich von selbst.
ORF.at: Um zur Musik zurückzukommen. Es gibt in dem Buch traditionellen Folk von früher und Neo-Folk. Es kommen alte Hippies vor - und moderne Hippies. Was hat sich in der Gegenkultur seit den 60er Jahren geändert - und was sind die Parallelen?
Boyle: Micah Stroud und Alma sind die nächste Generation von Hippies. Viele von ihnen interessieren sich heute für Umweltthemen. Ich habe nur versucht, das abzubilden.
ORF.at: Hören Sie selbst Neo-Folk, etwa Bill Calahan?
Boyle: Nein, überhaupt nicht. Ich höre Rock ’n’ Roll und den Jazz meiner Jugend, wie etwa John Coltraine. Aber ich höre keinen Folk.
ORF.at: Nach der Lektüre des Buches ist man sich aber sicher, dass Sie Folk mögen.
Boyle: (lacht) Schön, dann hat es funktioniert.
ORF.at: Sie haben selbst am Anfang ihrer Karriere einen Kurs für kreatives Schreiben besucht - und unterrichten es heute an einer Universität. Ihnen muss man wohl nicht die Frage stellen, ob sich gutes Schreiben lernen lässt?
Boyle: Ich versuche das Europäern jetzt seit 25 Jahren zu erklären. Nein, ist es nicht. (lacht) Es ist genauso unmöglich, wie aus einer unbeholfenen Person eine Primaballerina zu machen oder aus jemand Unmusikalischen einen großen Musiker. Es ist unmöglich, jemanden zu einem Künstler in einem für ihn unpassenden Metier zu formen.
Aber wenn du die Gabe hast zu schreiben, zu tanzen oder zu musizieren, dann kann man dir helfen, dich schneller zu entwickeln und deine Karriere zu beschleunigen. Es gibt an allen großen Universitäten die Möglichkeit, Bildende Kunst zu studieren und Musik. Warum sollte das bei kreativem Schreiben anders sein? Das sind keine Anfängerkurse. Es geht darum, ein Talent zu unterstützen.
ORF.at: Vielleicht herrscht in Europa immer noch das Bild vom einsamen Schriftsteller vor, der leiden muss, um große Kunst zu schaffen. Der muss ständig sein Innerstes nach außen kehren und darf nichts so Profanes tun, wie eine Schule besuchen.
Boyle: Das ist hier schon auch ähnlich. Ich ging damals nach Iowa, weil dort die einzige Möglichkeit existierte, von der ich je gehört hatte, kreative Schreiben zu lernen. Aber die Tradition gibt es eigentlich schon seit 75 Jahren. Es gibt dennoch Menschen, die ihre Bücher lieber in Isolation schreiben wollen - und warum nicht. Für die Generation vor mir war das selbstverständlich. Du hast lange in einer Stahlfabrik gearbeitet und dann versucht, den großen amerikanischen Stahlfabriksroman zu schreiben.
Wenn das für manche Leute noch immer so funktioniert, ist das okay. Aber Kurse für kreatives Schreiben haben schon vielen Autoren geholfen, ihr Talent zu entwickeln.
ORF.at: Sie haben bereits erwähnt, dass sich Ihre Geschichten wie von selbst entwickeln, auf der Grundlage der Realität. Aber haben Sie nicht einen Masterplan, was ein erfolgreiches Buch braucht - schließlich haben Sie schon einige geschrieben? Haben Sie ein Rezept, so wie: zwei Teile Spannung, ein Teil Humor, drei Teile Politik, zwei Teile zwischenmenschliche Beziehungen?
Boyle: (lacht) Ich mag Ihr Rezept. Aber so funktioniert das überhaupt nicht. Ich habe gerade eben erst mein 23. Buch abgeliefert, und ich kann Ihnen versichern: Ich habe keinen Masterplan. Ich weiß am Anfang nicht, wie sich eine Geschichte entwickeln wird. Die Struktur ergibt sich. Die Arbeit würde mich langweilen, wenn ich von Anfang an wüsste, wie alles wird. Wenn ich an einem Buch wie „Wenn das Schlachten vorbei ist“ ein Jahr lang arbeite, entwickelt sich die Geschichte von Tag zu Tag.
Es ist ähnlich wie bei Journalisten. Man überlegt sich ein Thema und stellt sich die Frage: „Was ist die Story?“. Und je länger man recherchiert, desto mehr verändert sich der Fokus.
Ich habe diese Woche im „New Yorker“ eine Kurzgeschichte veröffentlicht, die erste, die ich seit „Wenn das Schlachten vorbei ist“ geschrieben habe, sie heißt „Los Gigantes“. Die Handlung spielt in den 30er Jahren in einer Diktatur, und es geht um ein „Menschenzuchtprogramm“. Ich habe mich schon lange für Eugenik interessiert, sie berührt ähnliche Aspekte, die ich auch in Bezug auf Tiere behandelt habe. Diese Geschichte ist zu mir gekommen. Und wenn ich Glück habe, kommen noch einige weitere.
Es gibt keinen Plan, kein Rezept, nichts von wegen „zwei Teile Romantik und ein Teil Humor“. Ich versuche, mich nicht zu wiederholen. Zum Beispiel das neue, noch unveröffentlichte Buch „San Miguel“. Ich habe zum ersten Mal versucht, unironisch und ohne moderne Seitenhiebe über Geschichte zu schreiben. Und es ist mein erster Roman, der ausschließlich aus der Sicht von Frauen erzählt wird.
ORF.at: Sie betätigen sich als Schriftsteller aber nicht nur künstlerisch, sondern auch journalistisch. Sie recherchieren viel für Ihre Bücher.
Boyle: Ja, das ist der Punkt, an dem sich Ihre und meine Arbeit ähneln. Aber sie recherchieren für einen bestimmten Artikel. Wenn ich zu einem Thema recherchiere, weiß ich noch nicht, wie die Geschichte aussehen wird, ich habe keine Struktur und nichts. Während der Recherche mache ich auch keine Notizen. Ich fange aber an zu sehen, wie eine mögliche Geschichte aussehen könnte.
Diese Phase dauert bei einem Buch etwa drei Monate. Während dieser Phase beobachte ich, weiß aber noch nicht, welche meiner Beobachtungen ich verwenden werde. Ich hoffe nur, dass die Geschichte kommt. Und wenn sie kommt, dann fließt die Recherche mit ein. Als Künstler habe ich natürlich viele Freiheiten, die ein Journalist nicht hat. Sie sind dazu verpflichtet, uns mit Fakten zu versorgen. Ich hingegen entscheide selbst, welche Fakten ich weitergebe.
In „Wenn das Schlachten vorbei ist“ etwa sind alle Fakten über die Inseln wahr. Wenn Sie nichts über die Biogeografie von Inseln wissen, dann werden Sie bei der Lektüre dieses Buches etwas lernen. Ich will dieses Wissen weitergeben, weil es mich fasziniert. Auf der anderen Seite will ich, dass die Geschichte mich weiterträgt, wo auch immer sie hin will - solange dadurch die wichtigen Fakten nicht verdreht werden.
ORF.at: Haben Sie irgendwelche Tipps für angehende Schriftsteller?
Boyle: Entstamme einer reichen Familie. (lacht). Okay, ernsthaft: Lies viel Zeitgenössisches - und lies aufmerksam. So lernst Du zu schreiben und wirst inspiriert. Mehr brauchst Du nicht.
ORF.at: Wie denken Sie über Rezensionen Ihrer Bücher? Was nervt Sie, was lesen Sie gerne?
Boyle: Es stört mich, dass es keine wirkliche Riege an professionellen Kritikern mehr gibt - weil es keine Nachfrage nach ihnen gibt. Gedruckte Literatur beginnt aus unserem Bewusstsein zu verschwinden. Es gibt immer weniger Kritiker, die die Voraussetzungen mitbringen zu begreifen, was ein Künstler tut. Vielleicht war das schon immer so, aber ich glaube, es hat sich verschlimmert.
Irritierend ist für mich, wenn es Kritiker gibt, die nur das eine Buch von dir gelesen haben und vorher noch nie von dir gehört haben und einfach gar keinen Zugang zu deinem Buch finden können. Und es gibt viele ungebildete Kritiker, die einfach nur ihre Meinung wiedergeben, wie ein Blogger. Was sind die Qualifikationen von Bloggern, was wissen sie? Was haben sie bis jetzt getan? Bei einem guten Kritiker kann man sich ansehen, was der bisher geschrieben hat. Man kann seine Arbeit eine Weile verfolgen und weiß dann, wie sein Geschmack vom eigenen abweicht, oder was seine Vorurteile sind und so weiter.
Wenn ich von guten Rezensionen spreche, meine ich nicht solche, die dich loben. Das ist natürlich großartig - der Autor gibt sein Bestes und will gelobt und verstanden werden. Eine gute Rezension setzt sich mit dem Buch auf tiefgehende Weise auseinander und setzt sich auf ebenso tiefgehende Weise mit den Themen des Buchs auseinander - und geht schlussendlich über das Buch selbst hinaus, um über die größeren Implikationen zu sprechen.
Viele Rezensionen ignorieren all das, da geht es nur darum: „Ich mag das, oder eben nicht.“ Oder: „Ich mag keine Bücher, in denen große Frauen vorkommen.“ Oder: „Ich mag keine Bücher, in denen zu viele Hunde vorkommen.“ Das ist vollkommen willkürlich und irrelevant.
Man sollte sich einem Buch mit weit geöffneten Augen widmen. Man soll erforschen, was das Buch aussagt und nicht nur darüber schreiben, ob man es mag oder nicht. Nicht nur, was diese oder jene Szene bedeutet. Sondern: Was sagt das Buch über die Gesellschaft aus? Also das, worüber wir beide diesen Morgen gesprochen haben. Oder, in Ihrem Fall, an diesem Abend.
Das Gespräch führte Simon Hadler, ORF.at
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