Themenüberblick

Radikalumbau als Reaktion auf Krise

Vor genau 25 Jahren, am 27. Jänner 1987, hielt Michail Gorbatschow auf dem kommunistischen Parteitag eine folgenschwere Rede. Mit seinen Forderungen nach „Glasnost“ und „Perestroika“, also Transparenz und Umgestaltung, wollte der damalige Parteichef die angeschlagene Sowjetunion reformieren. Doch statt zu einer Modernisierung führte seine Reformpolitik zu einem Zusammenbruch des Regimes.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Anfang der 80er Jahre schlitterte die UdSSR in eine tiefe wirtschaftliche und soziale Krise. Um das wahnwitzige Wettrüsten mit den USA zu gewinnen, investierte die kommunistische Führung 40 bis 45 Prozent des Staatshaushaltes in Rüstung und Verteidigung. Zugleich litt die stark exportorientierte Wirtschaft der Sowjetunion unter Strukturproblemen und weltweit sinkenden Ölpreisen.

Sowjetunion in der Krise

Zu der wirtschaftlichen Krise gesellte sich laut dem Historiker und Russland-Forscher von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wolfgang Mueller, auch eine politische. Denn die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Konsumgütern war mangelhaft. „Das langjährige, unausgesprochene Abkommen zwischen Bürgern und der Einparteiendiktatur - moderat steigender Wohlstand gegen Verzicht auf politische Mitsprache - funktionierte nicht mehr. Die Menschen waren zunehmend unzufrieden“, so Mueller.

Alkoholmissbrauch „erschreckend hoch“

Das führte zu einem weiteren - volkswirtschaftlich unerwünschten - Nebeneffekt: Weite Teile der Bevölkerung griffen in ihrem Unmut zur Flasche. „In der 1980er Jahren erreichte der Alkoholmissbrauch ein erschreckendes Ausmaß. Chronische Alkoholerkrankungen nahmen zu, es kam zu zahlreichen Arbeitsausfällen und einem Rückgang der Produktivität“, so der Politologe und Russland-Experte der Universität Innsbruck, Gerhard Mangott, zu ORF.at.

Zu allem Überfluss war die politische Führung in Moskau jahrelang gelähmt. Nach dem Siechtum der Staatschefs Leonid Breschnew, Juri Andropow und Konstantin Tschernenko kam erst 1985 mit Michail Gorbatschow ein Mann an die Macht, der gesund und zu nötigen Reformen entschlossen war.

Drastischer Umbau statt Appelle

Als seine anfänglichen Appelle an eine höhere Arbeitsdisziplin keine Wirkung zeigten, entschloss sich Gorbatschow zu drastischeren Maßnahmen. Bei einer Rede vor dem Zentralkomitee der kommunistischen Partei am 27. Jänner 1987 sprach der De-facto-Herrscher der Sowjetunion nicht nur ein Alkoholverbot aus, sondern forderte auch den radikalen Umbau des wirtschaftlichen und politischen Systems der UdSSR.

„Perestroika“ hieß von da an das Stichwort, unter dem Gorbatschow den Kommunismus von innen heraus reformieren wollte. „Sein wirtschaftliches Konzept sah mehr Autonomie für Betriebe und eine Umstellung auf wirtschaftliche Rechnungsführung vor. Zudem sollte es Leistungsanreize geben, etwa in Form von höheren Gehältern. Weitere Punkte waren die Dezentralisierung der Planung und die Erlaubnis ausländischer Investitionen“, so Mueller.

Vorsichtige Demokratisierung

Gorbatschow trat bei seiner Rede auch mit dem Satz an, sein Land brauche die Demokratie „wie die Luft zum atmen“. Durch sanfte Reformen wollte er dem Kommunismus neues Leben einhauchen. Trotz freier Wahlen, der Einführung einer Gewaltenteilung und dem Ausbau des Rechtsstaates sollte aber die privilegierte Stellung der Kommunistischen Partei erhalten bleiben.

Michail Gorbatschow redet gestikulierend mit Ronald Reagan

AP/Barry Thumma

Gorbatschow und Reagan 1987 nach der Unterzeichnung des Washingtoner Vertrags zum Abbau nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa

Außenpolitisch setzte Gorbatschow auf eine Politik der Entspannung. In seiner Regierungszeit beendete er das atomare Wettrüsten mit den USA, entließ die Warschauer-Pakt-Staaten einschließlich der DDR in die Freiheit und ermöglichte so erst die deutsche Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Krieges.

Neue Freiheiten für Medien

„Da er wusste, dass er all das nur schwer gegen die konservativen Kräfte in seiner Partei durchsetzen konnte, brauchte er die Unterstützung der Öffentlichkeit“, so Mangott. Also habe sich Gorbatschow neben der „Perestroika“ zu einem zweiten, großen Reformschritt entschlossen: der Aufhebung der Einschränkung von Meinungs- und Pressefreiheit unter dem Schlagwort „Glasnost“ (dt. Offenheit).

Plenarsitzungen wurden künftig live übertragen, neue Medien wurden gegründet, und kritische Köpfe hielten Einzug in die Redaktionsstuben. „Die uniforme, langweilige Zeitungslandschaft begann sich zu bewegen, es kam zu einer Blüte des öffentlichen Diskurses“, so der Historiker Mueller.

Verbrechen werden öffentlich

Der Parteichef benannte zudem in einer ungewohnten Offenheit die Fehltritte seiner Vorgänger, etwa das Massaker an Tausenden polnischen Offizieren 1940 in Katyn. „Geschichtsprüfungen wurden ausgesetzt, weil man sich auf keine Lehrbücher mehr einigen konnte. Jeden Monat gab es neue Enthüllungen über Verbrechen der stalinistischen und sowjetischen Führung“, so Mueller.

Mittelfristig führte diese neue Offenheit laut Mueller aber zu einer Diskreditierung der gesamten Partei. Und auch der Politologe Mangott spricht im Zusammenhang mit „Glasnost“ von einer „riskanten Strategie“: „Wenn ich den Bürgern und Medien die Möglichkeit gebe, sich frei zu äußern, dann muss ich auch damit rechnen, kritisiert zu werden.“

Archivbild einer Menschenversammlung auf dem Isaaks Platz in Leningrad (St.Petersburg)

APA/EPA/Anatoly Maltsev

Proteste gegen den Putschversuch konservativer Kommunisten 1991

Ärger wegen ausbleibender Reformen

Der wegen seiner Reformankündigungen von der Bevölkerung anfangs gefeierte Gorbatschow bekam so bald selbst den Druck der neuen Öffentlichkeit zu spüren. Denn seine wirtschaftlichen Reformen kamen zu langsam, zu zögerlich, und zeigten nicht die gewünschten Wirkungen. Die Wirtschaftsleistung brach weiter ein, die Versorgungslage wurde schlechter, die Reallöhne sanken, ausländische Investoren blieben aus, der Staat ging pleite.

Die Stimmung kippte. Eineinhalb Jahre nach seiner Parteitagsrede machten die Menschen ihrem Ärger Luft. Es kam zu Demonstrationen, Generalstreiks und medialen Attacken gegen Gorbatschow. Gleichzeitig verstärkte sich auch der Widerstand innerhalb seiner eigenen Partei. „Die konservativen kommunistischen Kräfte warfen ihm Destabilisierung vor und machten ihn für den Verlust der Autorität der Partei verantwortlich“, so Mangott.

Das Ende eines Riesenreichs

Die reformfeindliche sowjetische Machtelite hatte genug von „Perestroika“ und „Glasnost“ und startete im August 1991 einen Putsch. Doch die Verschwörer scheiterten, da sie zwei Dinge unterschätzt hatten: die Moskauer Bevölkerung, die ihre Angst verloren hatte. Und den Elan von Boris Jelzin. Der Radikalreformer, der erst wenige Wochen zuvor zum russischen Präsidenten gewählt worden war, stellte sich den Konservativen in den Weg.

Mit dem Putsch war die Macht endgültig an Jelzin gefallen, Gorbatschow trat am 25. Dezember 1991 zurück. „Ein großer Staat hat aufgehört zu existieren“, klagte der ehemalige Staatsführer in seiner Abschiedsrede. Das kommunistische Regime und mit ihr die ehemalige Supermacht Sowjetunion ging damit nach 70 Jahren zu Ende.

Michail Gorbatschow

APA/EPA/Armin Weigel

Gorbatschow forderte zuletzt immer wieder einen neuen demokratischen Aufbruch für sein Land und die „Erneuerung der obersten Führerschicht“

Kritik an heutiger Machtelite

Heute meldet sich Gorbatschow erneut mit Kritik an der Lage in Russland zu Wort. Bei einem seiner letzten öffentlichen Auftritte warf er Putin vor, ein Machtmonopol wie zu Sowjetzeiten geschaffen zu haben. In den jüngsten Massenprotesten gegen die herrschende Elite in Moskau sehe er die Chance für einen neuen Aufbruch, so der mittlerweile 80-jährige Gorbatschow. Die Zeit sei jetzt reif, seine Politik der „Perestroika“ und „Glasnost“ zu Ende zu führen.

„Alle Zeichen stehen auf Öffnung“

Der Politologe Mangott glaubt ebenfalls an eine erneute Öffnung des politischen Systems. Die neue, wohlhabende und gebildete Mittelschicht beginne, sich wieder für politische Fragen zu interessieren. „Alle Zeichen stehen auf Öffnung. Es hängt aber vom Geschick der politischen Führung ab, ob dieser Weg in ruhigen, gesicherten Bahnen verläuft oder ob es zu Konfrontationen kommt“, so Mangott.

Thomas Hadinger, ORF.at

Links: