Hawaii ist nicht immer das Paradies
Superstars spielen gerne Helden, um sich selbst ein Denkmal zu setzen. Ein Ausnahme-Schauspieler wie George Clooney scheint das nicht nötig zu haben und beweist in Alexander Paynes bewegender Tragikomödie „The Descendants“ das Gegenteil. In der Rolle eines Familienvaters in Nöten spricht er dem Publikum aus dem Herzen und steuert - im Hawaiihemd - auf einen möglichen Oscar zu.
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Auf Hawaii zu wohnen bedeutet nicht, im Paradies zu leben - das stellt Familienvater und Anwalt Matt King gleich zu Beginn klar. Auch wenn geblümte Hemden und Hulatänzerinnen aus Plastik das Lokalkolorit dominieren, schützt das nicht vor Lebenskrisen und kaputten Beziehungen. Wie bei den Kings, wo der Haussegen schon länger schiefhängt. Der vielbeschäftigte Vater hat sich von seinen Töchtern entfremdet, seine Frau Elizabeth kompensiert die fehlende Aufmerksamkeit mit Extremsport und dem einen oder anderen Gläschen zu viel.

2011 Twentieth Century Fox
George Clooney als Vater von selbstbewussten Töchtern
Doch dann reißt ein Schicksalsschlag die Familie jäh aus ihren Alltagsproblemen. Nach einem schweren Bootsunfall fällt Elizabeth ins Koma und Matt muss erstmals die alleinige Verantwortung für seine Töchter, die zehnjährige Scottie und die 17-jährige Alex, übernehmen. Als wäre das nicht genug, enthüllt Alex, dass ihre Mutter zum Zeitpunkt des Unfalls mitten in einer Affäre mit einem anderen Mann steckte.
Das Leben neu ordnen
Einerseits wütend über diese Hiobsbotschaft, andererseits heillos überfordert mit dem Rollenwechsel vom Reserve- zum Vollzeit-Elternteil, macht sich Matt auf die Suche nach dem Liebhaber seiner Frau. Gleichzeitig ringt er mit der Entscheidung, ob er den Grundbesitz seiner Familie verkaufen soll. Von Mitgliedern der hawaiianischen Königsfamilie und Missionaren haben die Kings vor Generationen unschätzbar wertvolles Land erhalten, das zu den letzten unberührten tropischen Strandabschnitten auf den Inseln gehört („The Descendants“ heißt übersetzt „die Nachfahren“, Anm.). Der Millionendeal soll unterzeichnet werden, während seine Frau im Sterben liegt. Mit Scottie, Alex und deren Freund Sid im Schlepptau will Matt nun sämtliche Familienangelegenheiten ins Reine bringen und ihr aller Leben neu ordnen.

2011 Twentieth Century Fox
Regisseur Payne im Hawaiihemd bei den Dreharbeiten
Ein ganz normaler Mann
Selten ist die Bezeichnung „Antiheld“ treffender als für Clooneys Filmfigur Matt King. Obwohl er ein erfolgreicher Anwalt ist, arbeitet er in einem Büro, das alles andere als stylish ist, er wohnt in einem unspektakulären Mittelklassehaus, und nicht einmal das Wetter ist so, wie man es von Hawaii-Prospekten kennt. King ist ein Durchschnittsmann, der in eine Krise stürzt, und Clooney spielt ihn so authentisch und geerdet, dass man völlig vergisst, dass es sich dabei um George Clooney Superstar handelt - vielleicht die größte Leistung eines Schauspielers. Im Hawaiihemd macht der 50-Jährige freilich eine weniger gute Figur als in Soderbergh’schen Anzügen, aber genau das scheint Clooneys Bestreben zu sein: bloß auf keine Rolle festlegen lassen.
Regisseur Payne, dessen Film „Sideways“ 2004 mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, hat es mit „The Descendants“ zu fünf Oscar-Nominierungen gebracht. Der Film gewann heuer bereits einen Golden Globe als bestes Drama, Clooney wurde als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet.
Vollprofi und Spaßvogel
Payne und Clooney arbeiteten bei „The Descendants“ erstmals zusammen - und das erwies sich als faszinierende und passende Paarung, wie Koproduzent George Parra ausführt: „Die beiden kamen von Beginn an blendend miteinander aus. Alexander ist der ultimative Profi, ist sehr ernst, höflich und manchmal auch witzig. Grundsätzlich aber ist er bei der Arbeit sehr ernst. George dagegen ist der ultimative Spaßvogel, der für jeden Unsinn zu haben ist. Er liebt es zu lachen und ist einfach urkomisch. Im Aufeinandertreffen dieser beiden Persönlichkeiten entwickelte sich am Set eine tolle Energie. Beide ließen der Kreativität großen Spielraum und den Film sich einfach entwickeln.“
Balanceakt zwischen Tragödie und Komödie
Payne inszeniert das Leben und Überleben einer amerikanischen Normalofamilie als Balanceakt zwischen Tragödie und Komödie, der streckenweise tatsächlich zu Tränen rührt. Besonders bei der behutsam-hilflosen Annäherung des Vaters an seine Töchter beweist Payne ein Händchen für leise Zwischentöne und richtige Momente. Als Matt seiner älteren Tochter vom Zustand ihrer Mutter erzählt, ist sie gerade im Pool und taucht daraufhin mit dem Kopf unter Wasser. Die Welt draußen verschwimmt, der Schmerz wird dumpf wie das Rauschen im Ohr.
Vor allem der ständige Schlagabtausch zwischen Vater und Töchtern verleiht dem Film im nächsten Moment dann wieder Witz und Leichtigkeit. Clooney konnte und durfte seinen trockenen Humor, den er in Interviews und Talkshows immer wieder unter Beweis stellt, offenbar auf seine Filmfigur übertragen. Wie der betrogene Ehemann seine komatöse Ehefrau aufs Ärgste beschimpft, obwohl diese sich nicht wehren kann, entbehrt bei aller Tragik nicht einer gewissen Komik. Und der Gedanke drängt sich auf, ob man es selbst nicht genauso gemacht hätte.

2011 Twentieth Century Fox
Die üppige, fruchtbare und vor allem atemberaubende Landschaft Hawaiis bildet den Rahmen für diese Geschichte über eine Familie am Scheideweg, das Drehbuch ist eine Adaption des Debütromans „Mit deinen Augen“ der hawaiianischen Schriftstellerin Kaui Hart Hemming. Doch egal ob Honolulu oder Hollabrunn - das Gefühl, das alles könnte einem selbst genau so passieren im eigenen Leben, macht den Film so wertvoll. Hin- und hergerissen zwischen Lachen und Weinen begleitet man die Figuren auf ihrem Weg durch das Gefühlschaos. Es gibt am Schluss keine Erlösung, aber man freut sich, dass endlich alle im wahrsten Sinne des Wortes unter einer Decke stecken.
Sonia Neufeld, ORF.at
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