„Kriminalisieren Verhalten von Kindern“
Fehlverhalten im Klassenzimmer, das in anderen Ländern vielleicht mit Nachsitzen oder tadelnden Worten des Lehrers geahndet wird, kann für Schüler in Texas in manchen Fällen vor Gericht enden. Der US-Bundesstaat betreibt eine rigide „Law and Order“-Politik an seinen Schulen. Polizisten patrouillieren an den Schulen und greifen oft schon bei kleinsten Vorfällen ein.
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Ob es sinnvoll ist, Schülern Haftstrafen fürs Zu-spät-Kommen, für Raufereien im Pausenhof oder Stören des Unterrichts anzudrohen, ist umstritten. Denn in den meisten Schulen sind die Polizisten nicht mit ernsthaften Bedrohungen konfrontiert, sondern eher mit respektlosem kindlichem Verhalten, berichtete der britische „Guardian“ (Onlineausgabe).
Milch verschütten, fluchen, Papierflieger werfen
„Wir beobachten oft eine richtige Überreaktion auf Verhalten, das andere lediglich als kindliche Ungezogenheit statt als Gesetzesbruch sehen würden“, so Deborah Fowler, Vizedirektorin der Menschenrechtsbewegung Appleseed. Fowler analysierte in einem 200-Seiten-Bericht die Konsequenzen der Polizeipräsenz in Texas’ Schulen. Am häufigsten erhielten Schüler Strafzettel für Stören des Unterricht ausgestellt. Unter diesen Begriff fallen Delikte wie etwa das Verwenden vulgärer Ausdrücke, aber auch das Werfen von Papierfliegern.
Ein Teenager etwa wurde verhaftet, nachdem er und seine Freundin einander mit Milch beschüttet hatten, nachdem sie sich getrennt hatten. Und obwohl eine relativ große Anzahl der geahndeten Handlungen das Verwenden von Waffen umfasste, handelte es sich bei den verwendeten „Waffen“ meistens um Fäuste, wie in dem Bericht dokumentiert wird.
Angst vor Amokläufen
Die Präsenz von Polizisten in US-Schulen sahen viele Eltern als Garant für mehr Sicherheit an. Getrieben sei diese Politik unter anderem von einer hohen Jugendkriminalität in dern 90ern und dem Massaker an der Columbine High School, bei dem zwei Schüler im Jahr 1999 zwölf Schulkameraden und einen Lehrer erschossen, bevor sie sich selbst töteten, sagte Fowler. Die strengeren Gesetze mündeten darin, dass die USA das einzige westliche Land sind, in dem Jugendliche, die nicht älter sind als 13, lebenslang und ohne Recht auf Begnadigung eingesperrt werden können.
Strafen schon für Volksschüler
Auch die Jüngsten sind von dieser strengen Sicherheitspolitik nicht ausgenommen: 2010 vergab die Polizei fast 300.000 Strafzettel für „Klasse-C-Vergehen“ an Schüler in Texas, die nicht älter sind als sechs. Die Strafzettel haben Bußgelder, Gemeinschaftsarbeit oder sogar einen Gefängnisaufenthalt zur Folge. Strafmündig sind diese Kinder freilich noch nicht, die Altersgrenze dafür liegt in Texas bei zehn.
Chief Brian Allen, Präsident der texanischen Schulpolizeivereinigung (Texas School Police Chiefs’ Association), kann die Aufregung nicht verstehen: „Es gibt eine beträchtliche Zahl an Schülern, die Gesetze brechen. Dass man einen Strafzettel erhält, heißt nicht automatisch, dass man schuldig gesprochen wird.“ Vielmehr gebe es die Möglichkeit, beim Richter in dem Fall vorzusprechen. „Wenn Sie Lehrer sind, und ein zweimal so großes Kind wie Sie selbst kommt zu Ihnen und schlägt Ihnen mitten ins Gesicht, was werden Sie da tun? Werden Sie Ihre Fähigkeiten einsetzen, die Ihnen beigebracht wurden, oder werden Sie einen Polizeibeamten rufen?“, fragt er. Allen gibt gleichzeitig aber auch zu, dass die Mehrzahl der Fälle, in denen die Polizei eingreift, nicht viel mehr als Fehlverhalten sind.
Lehrer schieben Probleme ab
„Wir haben das Verhalten von Kindern kriminalisiert“, kritisiert Kady Simpkins, eine Anwältin, die eine betroffene Schülerin vertritt. „Ich weiß nicht, wie diese Kinder es schaffen, täglich ihn die Schule zu gehen, ohne diese Regeln zu brechen.“ Simpkins sagte gegenüber dem „Guardian“, dass viele der bestraften Schüler Lernprobleme hätten. Der Untersuchungsbericht zeigt außerdem, dass überdurchschnittlich oft nicht weiße Kinder von den Strafen betroffen sind.
„Anstatt damit innerhalb des Schulsystems umzugehen, wie wir es machten, haben wir nun die Schulpolizei. Sobald sie einschreitet, beginnt es zu eskalieren.“ Die Lehrer würden die Verantwortung auf die Polizisten abschieben. In manchen Fällen führt das zu Gewalt, auch in anderen Bundesstaaten. In Florida wurde ein Schüler auf einer Veranstaltung von der Campus-Polizei mit einem Taser angeschossen, weil er Senator John Kerry unangenehme Fragen stellte. Das Video dazu wurde auf YouTube mehr als sechs Millionen Mal aufgerufen.
Gesetz leicht entschärft
Aufgrund der zahlreichen Kritik wurde das Gesetz in Texas im Vorjahr zwar aufgeweicht, indem die Altersgrenze für Strafen auf über elf angehoben wurde, gänzlich abgeschafft wurde die Praxis jedoch nicht. Selbst Bundesstaatsanwalt Eric Holder machte sich für eine gänzliche Abschaffung der rigiden texanischen Strafpraxis stark: Gerichtsvorladungen dürften nicht dazu verwendet werden, mehr Disziplin in die Schulen zu bringen.
Der Appleseed-Bericht warnt vor einer Kriminalitätsspirale, die direkt von der Schule ins Gefängnis führt. Für viele der bestraften Kinder sei das der erste Schritt in Richtung einer kriminellen Karriere - sie seien abgestempelt als Problemfälle, ihre Zukunft womöglich durch eine Vorbestrafung verbaut.
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