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Der Terror der „Roten Garden“

Nach mehr als vier Jahrzehnten gilt die Große Proletarische Kulturrevolution weiter als das dunkelste Kapitel chinesischer Geschichte. Sie wurde von dem kommunistischen Land bis heute nicht aufgearbeitet - zumindest nicht offiziell. Jene, die als losgelassene „Rote Garden“ den „roten Terror“ über das Land gebracht hatten, wollen nicht gerne an ihre Gräueltaten erinnert werden.

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2006, als sich der Beginn der Kulturrevolution zum 40. Mal jährte, sagte der regimekritische Autor und ehemalige Philosophieprofessor Liu Xiaobo gegenüber der deutschen Nachrichtenagentur dpa: „Die nationale Selbstprüfung über diese ‚Katastrophe‘ hat bis heute immer noch nicht begonnen. Die Offiziellen erlauben keine offene Diskussion, die Opfer wollen sich nicht erinnern, und die Verfolger sind nicht zur Reue bereit.“

Zwar begann die Kulturrevolution als extrem linke Bewegung schon Jahre vorher, doch gilt das innerparteiliche Dokument vom 16. Mai 1966 als offizieller Startschuss. Das Politbüro erklärte darin den „Repräsentanten der Bourgeoisie“ den Krieg, die sich in Partei, Regierung, Armee und Kulturbereiche eingeschlichen hätten. Doch eigentlich versuchte KP-Chef Mao Zedong damit, sich nach dem „Großen Sprung nach vorn“ (1958) und den folgenden Hungersnöten, denen nach heutigen Schätzungen 30 Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren, seiner Widersacher zu entledigen und wieder die Kontrolle zu übernehmen.

Permanenter Ausnahmezustand

Im August 1966 mobilisierte der „große Steuermann“ die Studenten und Schüler, die ihm mit der Mao-Bibel in der Hand wie einem Sektenführer blind folgten. Bei ihren Feldzügen gegen „alte Ideen, alte Kultur, alte Sitten und alte Gewohnheiten“ trieben sie das Land in Chaos und Anarchie. Eiferer klagten „Klassenfeinde“ an, trieben sie wie Vieh durch die Straßen, prügelten sie zu Tode. Viele Verfolgte begingen Selbstmord. Millionen wurden zur Umerziehung aufs Land geschickt. Die Zahl der Opfer ist bis heute ungeklärt.

Zusammen mit der linken „Viererbande“ um seine Frau Jiang Qing setzte Mao auf den permanenten Ausnahmezustand, während andere Parteikräfte schon Anfang der 70er Jahre zur Normalität zurückkehren wollten. Erst Maos Tod 1976 und die kurz darauf erfolgte Verhaftung der „Viererbande“ setzte der Kulturrevolution ein Ende.

Die Schuld für die Exzesse wurde der „Viererbande“ in die Schuhe geschoben. Mao selbst werden heute „schwere Fehler“ in seinen letzten Jahren angelastet. Doch urteilt die Parteigeschichte mit „70 Prozent gut, 30 Prozent schlecht“ über sein Lebenswerk und hält ihn in allen Ehren.

„Lügen werden alles zerfressen“

Sein Widersacher Deng Xiaoping, der China danach in die Reform und Öffnung führte, fand zunächst, dass die Zeit für eine Aufarbeitung noch nicht reif sei. Als 2006 der Tod des letzten Mitglieds der „Viererbande“ bekanntwurde, argumentierte der frühere Vizechefredakteur des Parteiorgans „Volkszeitung“ („Renmin Ribao“), Zhou Ruijin, dass heute die Bedingungen in Partei und Institutionen gegeben seien, „um ruhig und tiefgehend eine historische Prüfung aufzunehmen“.

Als Stimme gegen die heute wieder erstarkten Linken genießt Zhou zwar Respekt, doch durfte sich zum Jahrestag vor vier Jahren niemand mehr derart offen in den Medien zur Kulturrevolution äußern. „Die Kosten des Schweigens und der Lügen werden der Gesellschaft als Ganzes aufgebürdet“, so der Autor Liu Xiaobo in einem von der Zensur gesperrten Aufsatz im Internet.

„Wenn eine Generation nach der anderen lügt, werden die Lügen alles zerfressen. Das chinesische Volk wird nicht mehr wissen, was persönliche Aufrichtigkeit oder was geschichtliche Wahrheit ist, deswegen wird es ständig historische Gelegenheiten missbrauchen, verpassen oder vergeben“, schreibt Liu weiter. Ohne die historische Wahrheit könnten die Lehren nicht gezogen werden. Und ohne diese historische Hypothek abzuzahlen, werde China seine Reformen „nicht gesund“ weiterentwickeln können.

Andreas Landwehr, dpa

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