„Riesengroßer Markt, keiner will rein“
Übergewichtige und adipöse Menschen haben andere Anforderungen an alltägliche Produkte als der durchschnittliche Konsument. Doch während es zwar zahlreiche Modegeschäfte für große Größen gibt und Pharma- und Lebensmittelindustrie viel Geld mit angeblichen Schlankmachern machen, sucht man bei Möbeln und speziell angepassten Alltagsgegenständen oft vergeblich nach Anbietern.
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Ein Knieschutz für Flugzeuge, ein Gurtgreifer als „verlängerter Arm“ im Auto, Schmuck in Übergrößen, verstärkte Toilettensitze, Abwischhilfen, Fußnagelschneider mit Haltearm und Lupe sowie Körperwaagen mit einer Belastung von bis zu 300 Kilogramm: Übergewichtige Menschen finden auf der Schweizer Onlineplattform SimplyBig Hunderte Angebote, die ihren Alltag erleichtern. In Österreich sucht man jedoch nahezu vergeblich nach Herstellern solcher Produkte.
„Kein Randproblem mehr“
Es sei „sehr, sehr schwierig“, spezielle Angebote zu finden, sagte Elisabeth Jäger vom Verein Adipositas Selbsthilfegruppen gegenüber ORF.at. Bei Möbeln etwa bleibe oft nur die teure Möglichkeit, sich diese maßanfertigen zu lassen. Dass Hersteller nicht besser auf die Bedürfnisse von Übergewichtigen reagieren, sieht Jäger jedenfalls als großes Versäumnis. „Das wurde immer als Randproblem gesehen, das ist es aber nicht mehr. Die Wirtschaft hinkt da hinterher.“
Das bestätigt auch der Verein Fettsucht. Renate Schmid sieht gegenüber ORF.at einen Nachholbedarf vor allem bei Möbeln und sanitären Einrichtungen. Es komme schon mal vor, dass zwei oder drei Klobrillen zerstört würden, so Schmid. Möbelgeschäfte gingen darauf jedoch „überhaupt nicht ein.“
Bedarf wird ignoriert
In Deutschland ist man schon einen Schritt voraus: „Kompetenz in XXL“ verspricht das Möbelhaus BreitStarkSchick. Lattenroste, Matratzen und Bürostühle werden laut Gründerin Sandra Wollmerath am häufigsten von den Kunden nachgefragt. Die Stühle haben neben einer extragroßen Sitzbreite eine Belastbarkeit von bis zu 300 Kilogramm. In einem auf ihrer Website veröffentlichten Interview erklärt Wollmerath, welch große Schwierigkeiten sie bei der Suche nach Herstellern hat. Diese erkennen aus ihrer Sicht nicht, „welch hoher Bedarf besteht“.
Warum es trotz der steigenden Zahl von potenziellen Kunden auch in Deutschland noch so wenig Angebote in diesem Bereich gibt, liegt laut Felix Beilharz vom Deutschen Institut für Marketing daran, dass die Nische der Übergewichtsprodukte ein Akzeptanzproblem hat. „Der Markt ist riesengroß, aber keiner will da reingehören“, erklärte Beilharz gegenüber der Nachrichtenplattform News.de. „Die meisten Kunden wollen es sich nicht eingestehen“, so Beilharz. Darum sei es schwierig, für die Produkte zu werben. Eine Ausnahme bildet dabei das Modesegment: In Deutschland werden demnach bereits 18 Prozent des Umsatzes der Modeindustrie im Übergrößensegment gemacht.
Große Nachfrage in Orthopädiegeschäften
Hierzulande bleiben als Bezugsquelle für XXL-Alltagshilfen oft nur Orthopädiegeschäfte. Das Unternehmen bständig verzeichnet nach eigenen Angaben seit Jahren eine steigende Nachfrage nach Produkten für schwergewichtige Menschen. Eigene Hersteller für derartige Produkte hätten sich zwar noch nicht etabliert auf dem Markt, allerdings gingen die Produzenten dazu über, die Gewichtsklassen bei Produkten wie etwa Gehhilfen zu erhöhen. Unter dem Namen Alltagshilfen „XL“ bietet bständig eine eigene Sortimentslinie an.
Dabei handelt es sich vor allem um Gegenstände wie Duschstühle, Rollstühle und Gehhilfen, die auf eine größere Belastung ausgerichtet sind, so die Leiterin der Rehaabteilung, Maria Drucker. Die Nachfrage steige von Jahr zu Jahr. Schwer übergewichtige Menschen hätten für diese zum Teil sehr teuren Anfertigungen die Möglichkeit, Kassenzuschüsse zu beantragen.
Reisen mit Spezialbetreuung
Übergewichtige tun sich aber nicht nur in den eigenen vier Wänden schwer. Auch die Urlaubsplanung gestaltet sich viel schwieriger. Angefangen bei zu kleinen Flugzeugsitzen, sind oft auch Hotels nicht auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet. In Deutschland gibt es deshalb einen eigenen Reiseanbieter, der maßgeschneiderte Angebote für schwergewichtige Menschen zusammenstellt: „Dicke Reisen“ plant für jeden Kunden zwei Sitzplätze im Bus ein, bietet ein gemächliches Tempo bei Ausflügen und eine Intensivbetreuung inklusive seelischer Verstärkung beim Sonnenbaden, wie Organisatorin Sylvia Strasser gegenüber dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“ beschreibt.
Elisabeth Jäger kritisiert gegenüber ORF.at, dass Hotels oft nur für normal große und normal gewichtige Menschen ausgerichtet seien. „Die Duschen sind oft für Größe 38 gebaut, und auch der Einstieg ist zu klein“, ärgert sie sich. Hinzu kämen zu wenig tragfähige Klobrillen und Sitzprobleme in der Gastronomie. Ein zweites großes Problemfeld seien kulturelle Angebote in Theatern, bei Konzerten und in Kinos. Jäger wünscht sich, dass dort, ähnlich wie für Rollstuhlfahrer, eigene Plätze geschaffen werden. Ein Wunsch, der bisher noch nicht erfüllt wurde.
Petra Fleck, ORF.at
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