„Stillstand“ oder „Durchwursteln“
Die Suche nach Wegen aus der europäischen Krise hat schon in mehreren Ländern Politikern den Kopf gekostet. Uneinigkeit über den künftigen Fahrplan der Euro-Zone verhindert auch auf europäischer Ebene rasche Entscheidungen, die angesichts der trüben Wirtschaftslage wohl nötiger denn je sind. Experten orten einen massiven Vertrauensverlust gegenüber der Politik - mit womöglich fatalen Konsequenzen.
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Die politische Lähmung innerhalb Europas aber auch in den USA angesichts der Schuldenkrise in der Euro-Zone droht das globale Wirtschaftswachstum über längere Zeit zu bremsen, befürchten Experten. Denn die globale Finanzkrise, die vor vier Jahren begann, hat sich zu einer politischen Krise für die Vereinigten Staaten und Europa ausgewachsen. Die Machtlosigkeit der Regierungen angesichts der wachsenden Schuldenlasten und ihre verzweifelte Suche nach Lösungen schüren nicht nur die Unruhe auf den Märkten, sondern auch die Unzufriedenheit in den Bevölkerungen.
Die politische Krise schoss in diesem Jahr in den Vordergrund, nachdem Wähler in Reaktion darauf, wie die Regierungen auf die 2007/08-Finanzkrise, die globale Rezession und die daraus resultierende Schuldenexplosion reagierten, das Vertrauen in die Politik verloren hatten. Zu dem, was falsch gelaufen ist, gibt es zwei Erzählungen: Die „linke“ Erzählart sieht die Banker mit ihrem Streben nach Gewinnmaximierung als Bösewichte, die ungestraft davonkamen. Die „rechte“ Erzählung stellt die Regierungen als Schuldige an den Pranger, die zu sehr in die Märkte eingriffen, riesige Rettungspakete und Sozialprogramme schnürten, die das Haushaltsdefizit weiter ausufern ließen.
Vertrauensverlust in Regierungen
In beiden Erzählweisen ist es der Bürger, der die Rechnung mit hoher Arbeitslosigkeit und höheren Steuern begleichen muss. Der erfolglose Kampf gegen die wirtschaftliche Unsicherheit lässt das Vertrauen der Bürger in die Regierungen Europas und der USA schrumpfen. Für viele ist der Kampf allein schon deshalb aussichtslos, weil sie die politischen Entscheidungsträger als zu eng verflochten mit den Wirtschaftseliten sehen. Die Warnungen vor einer zweiten globalen Rezession werden lauter - und mit ihnen wächst die Angst vor sozialen Unruhen in einem Ausmaß, wie es sie seit den 30er Jahren nicht mehr gegeben hat.
Die Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsgruppen zeigt sich schon jetzt bei den Protesten gegen die Wall Street, in der Popularität der Tea-Party-Bewegung und Protesten in zahlreichen europäischen Ländern. Die Regierungen in Griechenland, Italien und Spanien stürzten ein oder wurden abgewählt, und in diesem Jahr finden Präsidentschaftswahlen in den USA, Frankreich und Russland statt.
Wahlen allein können die Probleme jedoch noch nicht lösen, ist Scheherazade Rehman, Professorin für internationale Angelegenheiten und Finanzen an der George Washington University überzeugt. Um aus dieser Lähmung herauszukommen, müsse die politische Führung eine neue Vision aufzeigen, eine, die die intime Verknüpfung zwischen Wirtschaft und Politik wieder ins Gleichgewicht rücke, da sonst die Glaubwürdigkeit des politischen Systems gefährdet bleibe.
Bestenfalls ein „Durchwursteln“
Auch Heather Conley, ehemalige US-Staatssekretärin für europäische Angelegenheiten, glaubt, dass der Weg aus der Krise nur über ein großes Umdenken führen kann: „Ohne eindeutige Richtung und Führung treten wir auf der Stelle oder wursteln uns durch, unsicher, welcher Weg zu nehmen ist“, so Conley. „Ich befürchte, nur ein externer Schock kann uns dazu zwingen, den unsicheren (neuen) Weg einzuschlagen. Oder wir werden so frustriert, dass sich der Westen Anführern zuwendet, die uns in eine radikale neue Richtung lenken. Ich weiß nicht, ob unser Frustrationslevel schon diese Ebene erreicht hat, aber Europa wird dort bald angelangt sein“, lautet die düstere Einschätzung Conleys.
In Europa jagt ein Gipfeltreffen der Spitzenpolitiker das nächste. Erreicht werden dort jedoch nur Teilbeschlüsse. Selten hat Europa auch so viel Einfluss auf die Leitbörsen der USA und damit der Welt gehabt wie 2011. Dabei läuft es in den Staaten selbst auch nicht rund. Im August bereits verloren die USA bei S&P ihre Bestnote von AAA. Grund war die eigene Schuldenkrise. Dreimal wurde in diesem Jahr eine drohende Pleite der US-Regierung nur knapp abgewendet. Die festgefahrene Situation im US-Kongress - im Repräsentantenhaus haben die Republikaner die Oberhand - wird sich Investoren zufolge wohl nicht lösen, sondern vor den Präsidentschafts- und Kongresswahlen im November 2012 eher weiter verkeilen.
Europa am „Scheideweg“
Eindringlich appellierte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk in einer selbstkritischen Bilanz der polnischen EU-Ratspräsidentschaft während der vergangenen sechs Monate an Europas politische Führung: Man stehe am Scheideweg. Bei Übergabe des Vorsitzes an Dänemark sagte er: „Wichtige Entscheidungen stehen vor uns, die Frage: ‚Gehen wir einen gemeinsamen Weg, suchen wir eine europäische Lösung der Krise oder gehen wir in Richtung nationaler Egoismen?‘“
„Wir brauchen in den nächsten Tagen und Stunden schnelle Entscheidungen, um den Euro zu retten“, sagte Tusk weiter. „Entweder nehmen wir heute den Kampf auf für das geeinte Europa, oder wir werden es morgen nicht aufrechterhalten können.“ Europa könne nicht der Führung der zwei bis bis drei stärksten Staaten oder Technokraten überlassen werden, sondern müsse demokratisch legitimiert sein.
„Historische“ Machtverschiebung
Die politische Misere verursacht auch eine Machtverschiebung: Während westliche Länder straucheln, gewinnen Schwellenländer wie China an wirtschaftlicher Bedeutung, sind sich Experten einig. Bis 2020, schätzt das Centre for Economics and Business Research in London, werden Indien und Russland gemeinsam mit China und Brasilien in den Rang der sieben der größten Wirtschaftsnationen, der G-7, aufrücken. Lediglich die USA, Japan und Deutschland sollen dann noch von den bisherigen G7-Ländern dabei sein.
Niall Ferguson, Wirtschaftshistoriker von der Universität Harvard, spricht bereits von einem historischen Machtwechsel. „Für den größten Teil der 500 Jahre waren es die westlichen Staaten auf beiden Seiten des Atlantiks, die sagen konnten, dass sie das beste Wirtschaftssystem hatten, dass sie das beste politische System entwickelt hätten und so weiter.“ Diese Ansprüche klängen jedoch zunehmend hohler, so Ferguson.
Auch China nicht immun gegen Schuldenkrise
Doch auch asiatische Länder sind wohl nicht immun gegen die Schuldenkrise. George Friedman, geopolitischer Stratege und Geschäftsführer von Stratfor Global Intelligence, sieht ein deutliches Risiko, dass auch China irgendwann dem Club der Länder mit politischem Stillstand, gedämpftem oder abgewürgtem Wirtschaftswachstum und Bürgerunruhen angehören könnte. Das Wachstum der chinesischen Wirtschaft, die hauptsächlich vom Export lebt, verlangsame sich jetzt schon schnell.
Auch Japans Wirtschaftsaussichten sind aufgrund der euorpäischen Schuldenkrise getrübt: Die japanische Regierung senkte ihre Wachstumsprognosen wegen des starken Yen und der Krise. Im noch bis 31. März 2012 laufenden Steuerjahr dürfte die Wirtschaft demnach um 0,1 Prozent schrumpfen, wie die Regierung kurz vor Weihnachten bekanntgab.
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