Experten: Begriff falsch gebraucht
Neun Monate nach der AKW-Katastrophe in Japan hat die Regierung das zerstörte Atomkraftwerk Fukushima I für sicher erklärt. Das Ziel, die infolge des Erdbebens und Tsunamis vom März schwer beschädigten Reaktoren bis Jahresende in einem „Cold Shutdown“ (Kaltabschaltung) unter Kontrolle zu bringen, sei nun erreicht, verkündete die Regierung kürzlich.
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„Auch bei unvorhersehbaren Zwischenfällen kann die Strahlung am Rande der Anlage jetzt auf einem niedrigen Niveau gehalten werden“, sagte Ministerpräsident Yoshihiko Noda. Damit beginne nun eine neue Phase der Katastrophenbewältigung: Die nächsten Herausforderungen seien die Aufräumarbeiten und der sichere Rückbau der Anlage. Das könne laut Experten bis zu 40 Jahre in Anspruch nehmen. „Die Regierung wird einen klaren Zeitplan erarbeiten und alles Erdenkliche für die Stilllegung des Kraftwerks tun“, sagte Noda.

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Die Spuren der Katastrophe sind deutlich sichtbar
Auf den Kraftwerksbetreiber TEPCO kommen nach Ansicht des offiziellen Beraterausschusses enorme Kosten zu. Allein für Entschädigung müsse der Energieversorger in den kommenden zwei Jahren umgerechnet über 44 Milliarden Euro einplanen. Der Rückbau der Anlage werde weitere 11,3 Milliarden Euro kosten. Einige Experten gehen allerdings von 40 Milliarden Euro oder noch mehr für die Beseitigung des Kraftwerks aus.

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Ein Reaktorblock wird vor Umwelteinflüssen geschützt
„Grenzt an bewusste Lüge“
Umweltschützer kritisierten die Kaltabschaltung als Irreführung der Bevölkerung. Laut Definition der Regierung und von TEPCO liegt eine Kaltabschaltung vor, wenn die Temperatur auf dem Boden der Druckbehälter unter 100 Grad gehalten wird. Experten und Umweltschützer werfen der Regierung einen falschen Gebrauch des technischen Begriffs der Kaltabschaltung vor.
„Hier von Kaltabschaltung zu sprechen grenzt an eine bewusste Lüge“, sagte Reinhard Uhrig, Atomexperte von Global 2000. Die geschmolzenen Brennelemente hätten sich durch den Boden der Reaktordruckbehälter durchgebrannt und lägen nun als Klumpen auf dem Boden der Umhüllung. Dort wiesen sie weiter Temperaturen von schätzungsweise 3.000 Grad auf. Von einem sicheren Zustand seien die Reaktoren noch weit entfernt.
Darüber hinaus verkündete TEPCO laut Global 2000, dass die radioaktive Freisetzung durch das AKW „unter Kontrolle“ und das Risiko für die Bevölkerung „signifikant reduziert“ worden seien. „All das ist Teil des Sicherheitsmythos von TEPCO“, das bereits kurz nach Beginn der Reaktorkatastrophe eine „Roadmap towards Restoration“ veröffentlicht habe, „in der genau dieser Zeitablauf vorgezeichnet wurde: Kaltabschaltung bis Ende 2011“, so Uhrig.
„Hochexplosives Gemisch“
Doch damit nicht genug: Global 2000 sieht die hohe Wasserstoffkonzentration in den Reaktordruckbehältern als zweites „akutes Problem“. „In Rohrleitungen wurden bis zu 60 Prozent Wasserstoff gemessen, ab vier Prozent ist ein Wasserstoff-Sauerstoff-Gemisch hochexplosiv, wie sich bei den Explosionen im März gezeigt hat, die die Reaktorhüllen zerstörten. Der Betreiber experimentiert jetzt mit der Zuleitung von Kühlwasser, die reduziert wird, um die Temperaturen in den Reaktoren wieder zu steigern - dadurch soll die Wasserstofffreisetzung wieder unter Kontrolle gebracht werden“, so Uhrig.
Zusätzlich würden enorme Wassermengen benötigt, um die Reaktoren zu kühlen. Diese Wassermengen entpuppten sich als 89 Millionen Liter hoch radioaktive Brühe, die sich im Keller der Reaktoren sammle und von dort ins Grundwasser sickere. Ernüchterndes Fazit von Uhrig neun Monate nach der AKW-Katastrophe: „In Fukushima experimentieren die Betreiber mit der Sicherheit der Menschheit - weitere Verstrahlung passiert laufend, und von einem sicheren Zustand sind die Reaktorruinen weit entfernt.“
Radioaktive Rückstände in Lebensmitteln
Fest steht, dass die Aufräumarbeiten in dem AKW noch Jahrzehnte dauern werden. Hinzu kommt, dass noch immer riesige Gebiete in der Region verstrahlt sind, manche werden möglicherweise für immer unbewohnbar sein. Zehntausende Menschen aus der Evakuierungszone werden vielleicht nie zurückkehren können. In den vergangenen Tagen wurde nicht nur der Verkauf von Reis aus einzelnen Orten Fukushimas wegen überhöhter Strahlung verboten, auch in Babynahrung wurden leicht radioaktive Rückstände entdeckt.
Dennoch denkt die Regierung darüber nach - jetzt, da die Kaltabschaltung erreicht sei -, ob man die Evakuierungszonen nicht reduzieren könnte. Doch manche Japaner glauben nicht an eine Rückkehr. „Der Regierung kann man nicht vertrauen“, sagte eine Frau im Fernsehen und dürfte vielen ihrer Landsleute aus der Seele gesprochen haben.
Höchste Strahlenkonzentration nicht in Sperrzone
Unterdessen werden immer mehr Details über Fukushima I bekannt. In Japan waren unmittelbar nach der Katastrophe die Menschen außerhalb der Sperrzone vermutlich der höchsten Strahlung ausgesetzt. Diese Menschen hätten eine Belastung von 19 Millisievert ertragen müssen, was nur knapp unter dem von der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) festgelegten jährlichen Grenzwert liege, sagte die Regionalregierung am Dienstag. Die höchste Strahlenkonzentration sei in den ersten vier Monaten nach dem Unglück vom 11. März in der Stadt Iitate rund 40 Kilometer nordwestlich der Atomanlage gemessen worden.
Die Regierung hatte im Umkreis von 20 Kilometern eine Evakuierungszone eingerichtet. Auf Basis von Schätzungen waren diejenigen, die innerhalb dieser Zone wohnten und aufgefordert waren, sie zu verlassen, in den vier Monaten nach der Katastrophe vermutlich einer Belastung von 0,18 bis 2,3 Millisievert ausgesetzt. Das ist weniger als die geschätzten 0,84 bis 19 Millisievert für diejenigen, die nahe der Anlage wohnten, aber außerhalb der Evakuierungszone. Die Regierung von Fukushima sieht dessen ungeachtet keine Gefahren für die Gesundheit. „Solange die Belastung irgendwo nahe 19 liegt, sollte es keine Risiken für die Gesundheit geben“, erklärte sie.
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