Entschärfte Version immer noch drastisch
Die Gebrüder Grimm waren Germanisten - und schrieben ihre Märchen in erster Linie aus wissenschaftlichem Interesse nieder. Erst von Ausgabe zu Ausgabe adaptierten und entschärften sie die Geschichten und ließen Illustrationen anfertigen, um ihr Werk als Kinderliteratur verkaufen zu können.
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Die erste Ausgabe von Grimms „Kinder- und Hausmärchen“ erschien 1812. Für 2012 wurde deshalb jubiläumsbedingt das Grimm-Jahr ausgerufen. Der Taschen Verlag veröffentlichte aus diesem Anlass eine Auswahl der Märchen und setzte dabei auf eine Mischung aus den populärsten und eher unbekannten Geschichten. Die Texte entsprechen der siebenten Auflage, die noch von den Grimms selbst überarbeitet und abgeschwächt worden war.
Und dennoch sind die Märchen immer noch expliziter und brutaler, als man das gemeinhin gewohnt ist, wenn man sie nur aus Disney-Verfilmungen oder aus komplett umgeschriebenen Bilderbüchern kennt. Ein gutes Beispiel dafür ist „Die Gänsemagd“. Es geht darin um eine Prinzessin, die mit einer Magd freudig auf der Reise zu ihrem ihr unbekannten Bräutigam ist (heute würde man das Zwangsheirat nennen). Doch die Magd zwingt ihr den Rollentausch auf.
Splitternackt zu Tode gequält
Der Schwindel fliegt auf - aber noch vorher fragt der König die Magd (also die vermeintliche Braut), wie man jemanden bestrafen solle, der so etwas tut. Sie antwortet:
„Die ist nichts Besseres wert, als dass sie splitternackt ausgezogen und in ein Fass gesteckt wird, das inwendig mit spitzen Nägeln beschlagen ist. Und zwei weiße Pferde müssen vorgespannt werden, die sie Gasse auf, Gasse ab zu Tode schleifen.“ Also deckt der König den Betrug auf und teilt der Schuldigen mit: „Du (...) hast dein eigen Urteil gefunden, und danach soll dir widerfahren.“ In Zeiten, in denen zu Recht die Skandale von Abu Ghraib und Guantanamo für Aufregung sorgen, liest man so etwas kleinen Kindern nicht gerne vor.

Taschen Verlag
George Cruikshank, zu „Die Wichtelmänner“, 1823/26
Mit reichen Illustrationen zum Erfolg
Für die damalige Zeit waren solche Gewaltbeschreibungen kein Problem. Die Gebrüder Grimm wählten außer der (relativ bemessen) gesteigerten Familientauglichkeit noch ein zweites Mittel, um den Absatz ihrer Märchensammlung zu erhöhen. Nachdem eine englischsprachige Ausgabe mit Illustrationen des berühmten britischen Künstlers George Cruikshank ein großer Erfolg war, ließen sie auch die nächsten deutschen Auflagen reich illustrieren.
Buchhinweis
Noel Daniel (Hrsg.): Die Märchen der Brüder Grimm. Taschen Verlag, 320 Seiten, 29,99 Euro.
Da die Märchensammlung - freilich in vielen Varianten und Abwandlungen - seitdem immer wieder neu aufgelegt wurde, lässt sich anhand der Bebilderung der Geschichten schön die Entwicklung der Kunst und Druckgrafik der jeweiligen Zeit nachverfolgen. Das zweite Verdienst des Taschen Verlags ist es, neben der Wiedergabe der unveränderten Originaltexte, viele der Illustrationen von der ersten bebilderten Ausgabe bis in die 1950er Jahre hinein abzudrucken. Cover, Textgestaltung, die reiche Bebilderung, das informative Vorwort von Noel Daniel und gleich zwei bunte Lesebändchen sorgen in Summe für ein märchenhaftes Erlebnis.
Von der Romantik beeinflusst
Aber wer waren diese beiden Brüder, die mit ihren Veröffentlichungen von 1812 einen Welterfolg ersten Ranges schufen? Als Nachkommen einer Theologen- und Beamtenfamilie wurden sie in Hanau geboren. Dort beginnt auch die mehr als 600 Kilometer lange Deutsche Märchenstraße, die bis nach Bremen führt. Vier Jahre nach Wilhelm kam Ludwig Emil zur Welt. Er illustrierte später als Malerbruder Grimms Märchen. Von den insgesamt neun Kindern starben drei als Säuglinge. Ihre Jugend verbrachten Jacob und Wilhelm mit der Familie in Steinau an der Straße, wo heute ein Museum an sie erinnert.
Während ihres Jusstudiums in Marburg lernten die Brüder Grimm bei ihrem Lehrer, dem Rechtshistoriker Carl Friedrich von Savigny (1779-1861), den Dichter Clemens Brentano (1778-1842) kennen. Durch Savigny in historisch-kritischem Denken angeleitet und durch die Mitarbeit an einer romantischen Liedersammlung Brentanos und Achim von Arnims (1781-1831) in das Sammeln und Bearbeiten historischer und volkstümlicher Texte eingeführt, begannen die gelernte Bibliothekare selbst, Texte zusammenzutragen.
Die Märchenerzählerin
Einer der heimlichen Stars hinter Grimms Märchen ist übrigens eine Kasseler Schneidersgattin gewesen. Eine gewisse Dorothea Viehmann erzählte den Grimms einen beträchtlichen Teil der Märchen und trug damit erheblich zum noch immer größten Bestseller deutscher Sprache bei. Wilhelm und Jacob waren von ihrem Gedächtnis und Erzähltalent so beeindruckt, dass sie die „Viehmännin“ als Einzige ihrer Quellen persönlich erwähnten und ihr Porträt sogar auf den Einband setzten.
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