Irdischer Jesus, himmlischer Christus
Galiläa oder Judäa: Nicht nur in der Geburtsfrage ist der Weg zum historischen Jesus schwierig. An kaum einem Datum wird das so augenscheinlich wie zu Weihnachten mit der Geschichte von Maria, Josef und dem Jesuskind im Stall von Bethlehem.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Dass Jesus in Bethlehem zur Welt kam, kann mittlerweile getrost bezweifelt werden. So schwierig die Quellenlage zum Leben Jesu ist, darf dessen Wirken als Teil einer innerjüdischen Erneuerungsbewegung doch als historisch angesehen werden, wie Gerd Theißen und Annette Merz in ihrem Standardwerk „Der historische Jesus“ gründlich dargelegt haben. Gegner wie neutrale Beobachter setzen die Geschichtlichkeit Jesu voraus.
Flavius Josephus, Tacitus und auch Sueton sprechen vom Wirken einer um Christus zentrierten Bewegung. Der Name Christiani „stammt von Christus, der unter Tiberius vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war“, heißt es in den „Annalen“ des römischen Historikers Tacitus (ca. 58 bis 116).
„Der garstige Graben“
Zeitgenössische Quellen schweigen jedoch zu Jesus Christus, was Wissenschaftler bereits dazu veranlasst hat, die Geschichte von dessen Leben und Wirken als Fabrikation und Produkt eines religiösen Bedürfnisses auszulegen. Gotthold Ephraim Lessing, Sohn eines orthodoxen Lutheraners und selbst studierter Theologe, wird noch im 18. Jahrhundert vom „garstigen Graben“ sprechen, der zwischen den historischen Anhaltspunkten und dem unbedingten Vertrauen liege, dass Jesus so gelebt habe, wie man es sich aus der Bibel vorstelle. Die Evangelien selbst, auch das Markus-Evangelium als ältestes unter ihnen, entstanden frühestens 70 n. Ch., also lange nach Jesu Kreuzestod.
Paulus und Christus als Erscheinung
Zu den dem Leben Jesu zeitlich am nächsten stehenden christlichen Quellen zählen die Briefe des Apostels Paulus (50 bis 60 n. Chr.). Paulus, wohl der zentrale Motor für die Verbreitung des Christentums, konzentriert sich aber auf den himmlischen Christus, und das aus gutem Grund: Paulus „kennt“ Jesus Christus nur als Erscheinung.
Den irdischen Jesus kannte Paulus nie, und da er seinen Status als Apostel gegenüber den anderen Aposteln, die den irdischen Jesus gekannt hatten, verteidigen musste, hatte sich Paulus laut Theißen und Merz ganz besonders auf den „erhöhten“ Christus berufen müssen. „Auch wenn wir Christus nach dem Fleisch gekannt haben, so kennen wir ihn jetzt so nicht mehr“, heißt es im Korintherbrief (2 Kor 5,16). Paulus ist auf den Kreuzestod, die Passion Jesu, fokussiert. Der frühe Jesus, also auch die Geburt, spielt für Paulus keine Rolle.
Jesus und das Haus David
So sind es letztlich die Evangelien von Matthäus und Lukas, die das Bild der Geburt Jesu in Bethlehem bestimmt haben. Bei Markus ist Jesus der „Nazarener“ und Nazareth „seine Vaterstadt“. Nazareth liegt im nördlichen Galiläa, Bethlehem in Judäa. Bei Johannes wiederum wird angedeutet, dass der Messias nicht aus Galiläa kommen könne: „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen“ (Joh 1,45f.), sagt Nathaniel dem Philippus auf den Hinweis, Jesus aus Nazareth sei der von Moses und den Propheten angekündigte Messias.
Für Lukas und Matthäus ist die familiäre Herkunft Jesu aus dem Haus David wesentlich. Deshalb wählen sie für ihre Erzählung Bethlehem in Judäa als Geburtsort. „Die Verlagerung des Geburtsortes nach Bethlehem ist Ergebnis religiöser Fantasie und Vorstellungskraft“, so Theißen und Merz. „Weil der Messias nach der Schrift in Bethlehem geboren werden musste, wurde Jesu Geburt dorthin verlegt.“
Unscharfe historische Verweise
Historische Verweise des Lukas-Evangeliums sind ohnedies mit Vorsicht zu genießen. Die Geburt Jesu unter Herodes (dem Großen) passt zeitlich nicht zusammen mit dem im Weihnachtsevangelium angeführten Zensus des Quirinius. Quirinius war erst sechs n. Ch. Statthalter in Syrien. Am ehesten ist die Geburt Jesu in der Phase der letzten Regierungsjahre von Herodes, also sechs bis vier v. Ch., anzunehmen. Genau ermitteln lässt sich das, auch mit Versuchen, astronomische Phänomene einzubeziehen, nicht.
Das Bild der Kleinfamilie
Spannungsgeladen bleibt die bis heute tradierte bildliche Vorstellung der Geburt Jesu. Jesus kommt, so nehmen wir es heute wahr, inmitten einer Kleinfamilie zur Welt - eine Vorstellung, die bis in die Gegenwart hinauf Konjunktur zu haben scheint, wie der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke in seinem kleinen Band „Die heilige Familie und ihre Folgen“ zu belegen versucht.
Ein Blick auf die historischen Lebensumstände von Jesus zeichnet freilich ein anderes Bild: Die innerjüdischen Erneuerungsbewegungen, innerhalb derer das Wirken Jesu historisch zu lokalisieren ist, waren alles andere als Horte fixer Familienvorstellungen. Im Gegenteil: Man muss nicht das Wort Patchwork-Familie bemühen, doch Jesus hat sich (zeitweise) von seiner Familie getrennt und von seinen Jüngern Ähnliches gefordert.
Vater und Mutter „hassen“
Buchhinweise:
Gerd Theißen, Annette Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch. Vandenhoeck & Ruprecht, 557 Seiten, 33,90 Euro.
Albrecht Koschorke: Die heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch. Fischer, 240 Seiten, 13,50 Euro.
Friedrich Wilhelm Graf, Klaus Wiegant: Die Anfänge des Christentums. Fischer, 505 Seiten, 14,50 Euro.
„Dieser enorm familienkritische Zug der frühesten Jesus-Traditionen gehört zu den am häufigsten verschwiegenen, aber unbestreitbar auf Jesus zurückzuführenden Kennzeichen“, schreibt Merz in ihrem Beitrag zum Sammelband „Die Anfänge des Christentums“.
Vater und Mutter müsse man „hassen“, um Jünger sein zu können, findet sich etwa bei Lukas (Lk 14,26). An die Stelle der realen Familie, so Merz, trete die „fiktive Familie, ein Netzwerk von eng miteinander verbundenen Mitgliedern einer Bewegung, die sich einer Aufgabe verpflichtet weiß“: der Verkündigung des nahen Reichs Gottes. Überspitzt könnte man sagen: Jesus forderte mit seinem Wirken als Charismatiker, der sich seines besonderen Auftrags und der Beziehung zu Gott sicher war, genau jenes Bild heraus, das zum Weihnachtsfest in unzähligen Krippen vor den Augen der Feiernden steht.
Gerald Heidegger, ORF.at
Links: