Themenüberblick

Die dunkle Seite des Guten

Ulrich Köhler hat sich mit seinem Film „Schlafkrankheit“ nicht wenig vorgenommen. In seiner Geschichte über den Entwicklungshelfer Ebbo werden große Themen angesprochen: Neokolonialismus, Rassismus und die Unmöglichkeit, nur von der Moral leben zu können.

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Besonders Entwicklungshilfe ist ein heikles Terrain. Bereits in den 80er Jahren - vor allem aber in den 90er Jahren - hat sie ihren Nimbus der Unschuld und des Altruismus eingebüßt. Viele Projekte waren gescheitert, andere allzu paternalistisch angelegt, manche erwiesen sich als kontraproduktiv und waren vor allem für die Betreiber ein gutes Geschäft. „Hilfe zur Selbsthilfe“ lautete das neue Credo. Dann kam der Backlash, Entwicklungshilfe hieß wieder „Hungerhilfe“ und vor allem in Agrarsysteme wurde wieder mit teils tragischen Folgen eingegriffen.

Schon alleine der Begriff der Entwicklungshilfe gilt als höchst umstritten. Man ging dazu über, von „Entwicklungszusammenarbeit“ zu sprechen, um den gönnerhaften Eindruck zu vermeiden. Aber man kann längst nicht alles schwarz-weiß sehen, es gibt genauso Projekte, die ohne negative Folgen Menschenleben retten und Perspektiven aufzeigen. Köhler (1969 geboren) wird der komplexen Thematik gerecht, er war prädestiniert dafür, diesen Film zu drehen. Als Kind verbrachte er mit seinen Eltern, die Entwicklungshelfer waren, einige Jahre in Afrika.

Doppelte und dreifache Reflexionsböden

Viele seiner Erinnerungen sind in den Film eingeflossen. Einer der Drehorte war sogar das Krankenhaus, in dem seine Eltern damals gearbeitet hatten. „Schlafkrankheit“ ist aber nicht Köhlers erster Film. Er fuhr bereits mit „Bungalow“ (2002) und „Montag kommen die Fenster“ (2006) bei verschiedenen Festivals Achtungserfolge ein. „Schlafkrankheit“ brachte ihm nun den Silbernen Bären der Berlinale. Dabei wollte sich Köhler an ein afrikanisches Thema als Europäer zunächst gar nicht heranwagen.

Er fürchtete eine neokolonialistische, vereinnahmende Perspektive, mit der er dem Kontinent nicht gerecht werden hätte können. Geschickt baute er jedoch eine Reflexion über genau diese Perspektive in den Film ein. Überhaupt arbeitet Köhler mit doppelten und dreifachen Böden - was der Story kaum schadet, weil sie, obwohl zahlreiche Themen angeschnitten werden, im Grunde simpel genug ist, um all den Reflexionsballast tragen zu können.

Filmszene aus "Schlafkrankheit"

stadtkinowien.at

Ebbo, seine neue Frau und deren Eltern. Er kann ihre Familie nicht ausstehen.

Vermeintlich selbstlose Helfer

Im Mittelpunkt der Handlung steht Ebbo, gespielt von Pierre Bokma (1955 geboren). Ebbo arbeitet gemeinsam mit seiner Frau Vera seit vielen Jahren als Entwicklungshelfer. Alleine das aktuelle Projekt des Arztes gegen Schlafkrankheit in Kamerun läuft seit über zehn Jahren. Die vierzehnjährige Tochter der beiden besucht ein Internat in Frankreich. Weil Ebbos Frau Vera sie vermisst und sich in Afrika mittlerweile verloren fühlt, beschließen die beiden, nach Frankreich zurückzugehen. Ein letztes Mal ist die Tochter, mittlerweile von ihren Eltern entfremdet, zu Besuch.

Die Kamera beobachtet die Familie. Man trifft sich in „besseren“ Lokalen mit anderen Europäern. Die schwarzen Hausangestellten werden respektlos behandelt. Vera legt dem Nachmieter ihres Hauses die Übernahme der Köchin nahe, gerade so, wie man eine liebgewonnene Sklavin anpreisen würde. Ebbo schnauzt den Portier an. Es sind solche Szenen, die durchblicken lassen, dass sich das Selbstbild von selbstlosen Helfern ohne Vorurteile nur mühsam aufrechterhalten lässt.

Perspektivenwechsel als Kunstgriff

Als es soweit ist, und Ebbo sein Projekt einem Nachfolger übergeben soll, holt ihn eine Krise ein. Der Nachfolger scheint unfähig. Und ein Freund bietet Ebbo an, wenn er bleibt und selbst das Projekt weiterführt, nebenher bei einem lukrativen Tourismusprojekt mitmachen zu können - und er stellt ihm eine hübsche einheimische Studentin vor. Ebbo lässt Vera und seine Tochter vorfahren. Dann ein Schnitt - drei Jahre später: Entweder er flog nie nach Frankreich oder er kehrte gleich wieder zurück, weil er das Kleinstadtleben dort nicht aushielt.

Regisseur Ulrich Köhler

stadtkinowien.at

Regisseur Ulrich Köhler

Jedenfalls bekommt seine junge afrikanische Frau gerade ein Baby - und ein Prüfer der WHO taucht auf, der das Projekt evaluieren soll. Ebbo ist längst mit den Nerven fertig. Patienten gibt es kaum noch, weil sein Projekt so erfolgreich war und die Schlafkrankheit zurückgedrängt wurde. Hilfsgelder kassiert er trotzdem in vollem Ausmaß. Die Familie seiner Frau hasst er, weil sie immer mehr und teurere Geschenke von ihm fordert. Das Tourismusprojekt scheint sich ebenfalls als Hirngespinst zu entpuppen.

Der Kunstgriff mit der europäischen Perspektive betrifft den WHO-Prüfer, einen jungen Arzt aus Frankreich, der schwarz ist, kongolesische Wurzeln hat, aber noch nie in Afrika war. In Europa ist er das Opfer von „witzig gemeintem“ Rassismus unter Kollegen. In Afrika ertappt er sich dabei, selbst rassistische Vorurteile zu hegen. Wen er aber schließlich am Ende aller Moral und am Ende seiner Kräfte vorfindet, ist Ebbo - ein Weißer. Der Film spitzt sich auf einen dramatischen Showdown zu.

Ein Maximum an Differenziertheit

Ulrich Köhler zeigt also: Ein Entwicklungshilfeprojekt, das hervorragend funktioniert, weil es die Schlafkrankheit zurückdrängt - und gleichzeitig ein Projekt, das nur noch seinen Betreibern etwas bringt, weil weiter kassiert wird, obwohl kaum noch Bedarf besteht. Er zeigt einen Menschen, der Gutes tut, davon aber auch gut leben kann und sich als weißer „Massa“ im Dschungel geriert - bis er jegliche Moral über Bord wirft. Und er zeigt einen Menschen, der gleichzeitig Opfer von Rassismus und dennoch selbst nicht gänzlich frei von latentem Rassismus ist. Differenzierter lässt sich das Thema nicht angehen.

Simon Hadler, ORF.at

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