„Shit, da muss ich hin!“
Mit Goa verbindet man gemeinhin Hippies ab den 60ern und Rave-Heads ab den 80er Jahren. Sprich: Sex ’n’ Drugs ’n’ die jeweilige Musik eben; aber auch: ein friedliches Miteinander, freie Liebe und den Entwurf einer besseren Welt. Michael Leon rückt dieses Bild in seinem Romanerstling „Exit Goa“ ein wenig zurecht.
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Leon weiß, wovon er spricht, er betrieb zehn Jahre in Panjim in Goa eine Werbeagentur. Davor gehörte er in Deutschland zur ersten Generation vielbeschäftigter Daily-Soap-Autoren, wie es im Klappentext heißt. Es kommt also nicht von ungefähr, dass sein Ich-Erzähler Mitchell/Michael heißt - und als Soap-Opera-Autor in München eingeführt wird. Das Buch, sagt Leon gegenüber ORF.at, sei „ziemlich autobiografisch“. In eine echte Autobiografie hätte man das ohnehin nicht packen dürfen - zu viel strafrechtlich Relevantes findet sich auf den 198 Seiten.
Manches, so Leon, habe er „hingebogen“. Im Buch also - zumindest dort - versucht der alte WG-Kollege Zipp, der längst in Goa ist, seinen Freund Mitchell zu überreden, nachzukommen. Mitchell verdient sich gerade mit seinen Soap-Operas eine goldene Nase und ziert sich noch. Reichtum und eine Ehe samt Kindern mit einer hübschen, deutlich jüngeren Frau sind die eine Möglichkeit. Sex mit vielen Frauen und Party ohne Ende die andere. Eines Tages die Erkenntnis: „Shit, da muss ich hin!“ Also schmeißt er Job und Freundin und steigt in den Flieger.
Kiffen, koksen und Touristinnen
Die nächsten zehn Jahre hindurch wird er das Geld aufbrauchen, das er sich zur Seite gelegt hatte, mit einer Royal Enfield als Trumpf reihenweise Touristinnen abschleppen, unentwegt kiffen, koksen, Trips nehmen und seltsamen Gedanken über den Sinn des Lebens nachhängen. Und bei all dem geht es ihm nicht um Bewusstseinserweiterung, freie Liebe, das Aufgehen in einer Gemeinschaft oder sonstige Ideale, sondern schlicht und einfach um kurzfristige, egoistische Triebbefriedigung.
Wer auch immer, legt Leon seinem Mitchell an einer Stelle sinngemäß in den Mund, gedacht hatte, er habe Moral, der sei eines besseren belehrt worden. Und dasselbe gilt im Großen und Ganzen für die meisten Menschen, mit denen er sich in Goa umgibt. Hippie-Outfit, Goa-Trance und unter dem Sternenhimmel am Strand nächtelang durchzutanzen ist offenbar kein Widerspruch zu Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Egoismus und sonstiger Dummheit. Gemeinsam mit Leon beginnt man Goa-Mitchell und seine Freunde zu verachten.

Ela Angerer
Michael Leon lebt heute in Wien
Die Freiheit, die sie meinen
Einen guten Anlass dafür bietet Zipps Überredungsversuch, Mitchell möge nachkommen. Japanerinnen und Amerikanerinnen gingen zuerst auf den Himalaya und kämen dann nach Goa, heißt es da: „Die Judenschlampen auch, bloß geh’n die nicht erst kraxeln, die kommen gleich her. Weil wenn die ihren Militärdienst hinter sich haben, dann wollen die sich frei fühlen.“ Und auf Deutsche würden sie besonders stehen, weil „man liebt, was die Alten hassen! Weißte, wenn die mit ’nem Krautfresser ficken, dann befreien die sich auch irgendwie von ihrer eigenen Erziehungsscheiße.“
Bevor Mitchell nach Goa abhaut, muss er aber noch eine „Endlösung“ für seine Freundin Walli finden. Aber Walli ist bald vergessen, schließlich gibt es ja in Goa auch Frauen, die ihm zusagen: „Mann! Würde man in ihre Titten einen Schwerkraftdynamo eingebaut haben, hätte ein Schneller Brüter einpacken können. Absolut zirkusreif.“ Das Mädchen tanzte mit einigen Schwarzen stundenlang am Strand: „Die war sicher schon zwei Kilo leichter inzwischen, und ein paar von den Bimbos hatten schlappgemacht.“
„Nicht-Entwicklung“ als „Entwicklung“
Aber so sehr sich Mitchell auch bemüht, er kann sein Goa-Ding nicht ohne Unterbrechung durchziehen, und schon gar nicht ad infinitum. Er trifft auf Menschen, die ihn berühren. Er hilft einem schwer kranken Selbstmordgefährdeten. Er erlebt für Momente echte Nähe mit den anderen Freaks. Leon - der echte Michael also - kann keine eindeutige Antwort auf die Frage geben, ob er eine Conclusio aus seiner Goa-Zeit parat hat. Einerseits „hätte man vernünftiger sein können“. Andererseits war das lange Ausschlafen auch rückblickend nicht schlecht.

Czernin
Buchhinweis
Michael Leon: Exit Goa. Czernin, 198 Seiten, 19,80 Euro.
Manchmal, sagt Leon, hat er das Gefühl, besser in dieser Zeit etwas anderes gemacht zu haben, etwas, das ihn weitergebracht hätte. Weitergekommen sei er, aber eben erst danach. Mit der Bezeichnung „Roman“ für seine Aufzeichnungen hat Leon gerade deshalb ein Problem - denn in einem Roman müsse sich etwas entwickeln. Aber zehn Jahre Goa - „entwickelt sich da was? Aber schließlich ist auch Nicht-Entwicklung eine Art von Entwicklung.“
Zumindest nach der Lektüre des Buches hat man den Eindruck, am Ende könnte sich der Zehnjahrestrip doch noch ausgezahlt haben. Ein selbst ernannter Guru gibt Mitchell den Ratschlag seines Lebens. Den darf man an dieser Stelle nicht vorwegnehmen. Nur so viel: Alles wird gut.
Simon Hadler, ORF.at
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